Politische Theorie

Furcht und Freiheit

Liberale Demokratie kann Grausamkeit verhindern und ist deshalb verteidigenswert, schreibt Princeton-Professor Jan-Werner Müller in seinem neuen Buch. Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit setzen der Brutalität nämlich Grenzen.
Frauenbaracke in Auschwitz 1945: Dass Grausamkeit verhindert werden muss, ist eine Lehre der Nazi-Zeit. picture-alliance/TopFoto Frauenbaracke in Auschwitz 1945: Dass Grausamkeit verhindert werden muss, ist eine Lehre der Nazi-Zeit.

Die liberale Demokratie wird derzeit in vielen Ländern von autoritären Populisten infrage gestellt. Das hat zu intensiven Mediendebatten geführt. Der in den USA lehrende deutsche Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller hat dazu sehr wichtige Beiträge geliefert. Sein neues Buch untersucht, warum die liberale Demokratie verteidigenswert ist.

Die Begriffe „liberal“ und „Liberalismus“ haben eine lange Geschichte in der politischen Philosophie. Wofür sie stehen, ist nicht eindeutig. In den USA und Kanada treten „Liberale“ für einen starken Sozialstaat ein und stehen tendenziell mitte-links. In Australien dagegen ist die Liberale Partei von Premierminister Scott Morrison seit Langem die etablierte konservative Kraft und wirkt mit ihrer Klimaleugnung und Xenophobie zunehmend populistisch.

„Populismus“ ist freilich ein weiterer Begriff, der klar definiert werden muss. In seinem 2016 veröffentlichen Buch „Was ist Populismus?“ hat Müller das auf exzellente Weise getan (siehe Rezension von Hans Dembowski im Schwerpunkt von E+Z/D+C e-Paper 2017/02). Populisten behaupten demnach:

  • unmittelbar „das“ Volk zu vertreten,
  • bestreiten die Legitimität aller anderen politischen Kräfte und
  • agitieren einerseits gegen vermeintlich ausbeuterische Eliten und andererseits gegen Minderheiten.

Typischerweise inszenieren sich Populisten als Opfer. Sobald sie Machtpositionen erreichen, versuchen sie sich dann nach Kräften demokratischer und rechtlicher Kontrolle zu entziehen. Wenn in E+Z/D+C von Populismus die Rede ist, bezieht sich das auf Müllers Definition.

Das neue Buch behandelt verschiedene Bedeutungen von Liberalismus und verwirft einige davon. Müller lehnt zum Beispiel den marktradikalen Liberalismus ab, weil dieser einerseits allen, die mit eigener Arbeit Geld verdienen müssen, strenge Verhaltensregeln auferlegt, zugleich aber finanzkräftigen Akteuren kaum Grenzen setzt. Es stimmt nun mal nicht, dass nur der Staat Freiheit einschränkt. Privatunternehmen können das auch tun.


Grausamkeit vermeiden

Aus Müllers Sicht muss eine gerechte Gesellschaftsordnung verletzliche Menschen vor der Grausamkeit der Mächtigen schützen – und das kann nur die liberale Demokratie leisten. Dieser Gedankengang stammt ursprünglich Judith Shklar (1928–1992), einer säkularen Jüdin die vor den Nazis aus Osteuropa nach Amerika floh und Philosophieprofessorin an der Harvard University wurde. Müller greift ihre Ideen auf. Er schreibt, der Ausgangspunkt für die Gestaltung einer Sozialordnung müsse sein, den Opfern von Grausamkeit Gehör zu schenken. Deren Erfahrung müsse die Politik dann so leiten, dass Furcht vor Grausamkeit unnötig werde.

Müller behauptet nicht, dass jede liberale Demokratie diesem Ideal entspricht. Er unterstreicht aber, dass andere politische Systeme gar nicht für diesen Zweck konzipiert sind. Selbstgefällige Opferposen, wie sie Populisten gern im Namen von Mehrheiten einnehmen, sind dagegen Wegbereiter für autoritäre Herrschaft und die Diskriminierung von Minderheiten.

Das Buch „Furcht und Freiheit“ ist zunächst auf Deutsch erschienen. Eine englische Version werde vorbereitet, sagt Müller, er wisse aber noch nicht, wann sie erscheine. Die Botschaft ist wichtig, aber das Werk ist nicht leicht zu lesen. Der Autor taucht tief in die Geschichte der politischen Philosophie ein. Unter anderem erläutert er,

  • dass Frankreich einst als liberales Vorbild galt (denn der Code Civil des autokratischen Herrschers Napoleon schaffte aristokratische Privilegien ab und führte im Marktgeschehen Gleichberechtigung aller Bürger ein),
  • dass wohlhabende Eliten historisch die liberale Demokratie der uneingeschränkten Demokratie vorzogen (denn Verfassungen setzen dem Mehrheitswillen Grenzen) und
  • dass sich liberale Forderungen nach Chancengleichheit recht spät entwickelten und nicht überall gleichermaßen zu konsequenten Staatseingriffen in Märkte führten.

Müller schildert auf faszinierende Weise eine breite Palette von Bedeutungskonnotationen des Begriffes „liberal“. Die Stärke seines Buches ist, dass er die Forderung nach liberaler Demokratie ethisch mit dem Schutz vor Grausamkeit erdet.

Das Buch liefert allerdings keine Diagnose dafür, welche Ursachen die aktuellen politischen Krisen vieler Staaten heute haben. Der Klimawandel wird kaum erwähnt. Müller lässt sich auch nicht auf die weltweite Superelite milliardenschwerer Oligarchie ein, von denen viele populistischen Nationalismus unterstützen. Beispiele sind die Koch Brüder oder die Mercers in den USA oder der Verleger Rupert Murdoch. Sie profitieren von der Globalisierung, wollen aber staatlicher Regulierung entgehen. Mit gutem Grund wird argumentiert, dass sie das zur Förderung rechter Nationalisten motiviert (siehe Hans Dembowski im Monitor von E+Z/D+C e-Paper 2019/09).

Der Hintergrund ist, dass die Regulierung internationaler Märkte in wachsendem Maße auf supranationaler Kooperation beruht und nicht einzelstaatlich durchgesetzt werden kann. Wer auf nationale Souveränität besteht, macht deshalb Regierungen nicht stärker, sondern schränkt deren Fähigkeit ein, die Globalisierung zu gestalten. Müller arbeitet, wie er E+Z/D+C mitgeteilt hat, an einem Buch, das solche Fragen behandeln wird – und das zuerst auf Englisch erscheinen wird.


Literatur

Müller, J.-W., 2019: Furcht und Freiheit – Für einen anderen Liberalismus. Berlin, Suhrkamp
Müller, J.-W., 2016: Was ist Populismus? Berlin, Suhrkamp).