Seilbahnen
Rauf und runter
Südamerikanische Städte wie Bogotá, Medellín, Caracas, La Paz oder Rio de Janeiro haben alle ähnliche Probleme: Die Mittel- und Oberschicht ist mit Autos und Bahnen versorgt und gelangt bequem in ihre gut angebundenen Stadtteile. Die ärmeren Bevölkerungsgruppen hingegen, die oft weit entfernt in bergigen Vierteln wohnen, müssen auf ihrem Weg nach Hause mit Bussen und lokalen Transportmitteln wie Motorrad-Taxis lange Staus in Kauf nehmen.
Um dem wachsenden Mobilitätsproblem Herr zu werden, setzen viele lateinamerikanische Megastädte auf Seilbahnen, denn deren Vorteile liegen auf der Hand: Die Gondelbahnen sind relativ schnell über der Erde und kostengünstig zu bauen. Sie sind umweltfreundlich und ermöglichen angesichts eines explosionsartigen Bevölkerungswachstums in den Städten auch ärmeren Bewohnern in schwer zugänglichen Gebieten den Zugang zu öffentlichem Raum (siehe Kasten nächste Seite). Zumindest in der Idealplanung. Während Gondelbahnen in Europa und USA meist in den Bergen dem Tourismus dienen und viel Geld kosten, repräsentieren sie in Südamerika eine Demokratisierung des Transports. Sofern die Bevölkerung sie akzeptiert.
In Rio de Janeiro war dies nicht so. Die im Jahr 2011 gebaute Seilbahn im Complexo do Alemão sollte das Schmuckstück des Favelakomplexes im armen Norden werden. Die Bahn mit ihren sechs Stationen transportierte Anwohner schnell, kostenlos und umweltfreundlich zu einer Zugstation mit Anbindung an die Innenstadt. Vorher waren sie auf Motorrad-Taxis oder selbst organisierte Kleinbusse angewiesen. Der Plan war vermeintlich perfekt – doch er ging nicht auf. Nach nur fünf Jahren, nachdem die Olympischen Spiele im Jahr 2016 beendet waren, wurde die Seilbahn stillgelegt. Rio de Janeiros Bahn offenbart die Schwachstellen eines Systems, das anderswo durchaus gut funktioniert.
Seit mittlerweile drei Jahren lagern die Gondeln verpackt in Hallen. Geblieben sind die riesigen auf den Hügeln thronenden Stationen, in denen sich die Polizei einbunkert, wenn es zu Schießereien mit den Drogengangs kommt. Der Grund für das Ende der Bahn waren Korruption und Wechsel der Betreiber. „Die Seilbahn in Rio scheint nicht von der Bevölkerung angenommen zu werden”, bilanzierte der kolumbianische Architekt Alejandro Echeverri schon 2013 auf einer Stadtplanungskonferenz in Rio.
Bewohner Rios kritisierten, die Stadt solle zunächst eine ordentliche Kanalisation bauen, anstatt in eine prestigeträchtige Gondelbahn zu investieren. „Die meisten Favela-Bewohner lehnen die Seilbahn ab, weil nur die Touristen davon profitieren werden”, erklärt etwa der Bürgerreporter Michel Silva aus der Favela Rocinha, die ursprünglich auch eine Gondelbahn erhalten sollte. „Für die Seilbahn wird Geld verschwendet, während wir weiter mit offenen Abwasserkanälen leben müssen.”
Erfolg in Medellín
Im kolumbianischen Medellín – eine Stadt, in der es ständig bergauf und -ab geht – funktioniert die Seilbahn „Metrocable” hingegen seit 2004 bestens, und sie wurde zum ausgezeichneten Vorzeigeprojekt. Die Voraussetzungen waren ähnlich wie in Rio: Armenviertel auf Bergen ragend, eine Stadt mit hohen sozialen Ungleichheiten und überbordendem Verkehr. Auch dort war es leichter, eine Bahn in die Luft anstatt auf die Straße oder unter die Erde zu legen.
Doch trotz des Erfolgs gibt es auch in Medellín durchaus Kritik: Einige Anwohner und Organisationen monieren, dass das Projekt vornehmlich dem Tourismus diene und zu Gentrifizierung führe. In Medellín nutzen Touristen gern die Bahnen, und auch in Boliviens Hauptstadt La Paz ist die Seilbahn eine der größten Touristenattraktionen geworden. „Mi Teleférico” operiert seit 2014 erfolgreich über den Bergen und verbindet La Paz mit der 400 Meter höher liegenden Nachbarstadt El Alto.
El Alto ist mit rund einer Million Menschen eine überwiegend indigene Stadt. Sie an La Paz anzubinden war Evo Morales, dem umstrittenen linken Präsidenten, der von 2006 bis 2009 im Amt war, wichtig (siehe Kommentar auf S. 13 dieses e-Papers). Seine inklusive Politik stabilisierte das Land, aber seine autoritären Neigungen wurden immer klarer. Nach Wahlkrawallen floh er aus dem Land; seine Unterstützer sprechen von einem Militärputsch.
Mittlerweile haben La Paz und El Alto Stadt das längste schwebende öffentliche Transportsystem: zehn operierende Linien. Die erste startete im Jahr 2014, und die vorerst letzte soll 2020 fertiggestellt werden. Im Gegensatz zu anderen Städten ist die Seilbahn in La Paz kein ergänzendes Transportmittel, sondern stellt das wichtigste öffentliche Nahverkehrsmittel dar. „Der Teleférico erreicht einen großen Teil der bolivianischen Bevölkerung. Es ist das umfangreichste und finanziell aufwändigste Projekt der Regierung und wurde sehr schnell aufgebaut. Dafür brauchte es nationale Gesetze”, sagt die bolivianische Sozialarbeiterin Cecilia Barja. Sie kritisiert, dass lokale Behörden nicht in die Umsetzung involviert wurden.
Die Bahn transportiert nach eigenen Angaben monatlich rund 2 Millionen Menschen, die sogar über solarpanelbetriebene Systeme Wifi in den Gondeln nutzen können. Dennoch, findet Barja, löst die Bahn das Hauptproblem des Transports nicht: „Wie überall in Südamerika erleben wir eine Urbanisierung, Städte werden immer voller. Doch anstatt die Seilbahn mit dem bestehenden System zu verbinden, hat man autarke Systeme geschaffen.”
Dennoch profitieren vor allem die Bewohner der ärmeren Stadtviertel von den boomenden Seilbahnen – in Cali, Manizales und Medellín in Kolumbien, in Ecatepec in Mexiko, in Caracas in Venezuela oder Santo Domingo in der Dominikanischen Republik. Guatemala plant für die kommenden Jahre ein eigenes System. Dass Seilbahnen im Vergleich zu U-Bahnen viel weniger Menschen transportieren können, scheint der schnellen und preiswerteren Bauweise untergeordnet. Und: Touristen werden in allen Städten angelockt und geben den Vierteln einen ganz anderen Aufschwung.
Dennoch bleibt das Urteil der lokalen Bevölkerung ambivalent: „Es ist eine wundervolle, beeindruckende und unvergessliche Erfahrung, man sieht neue Teile der Stadt, und kommt in den Gondeln mit fremden Menschen ins Gespräch”, findet Barja. „Die Freude darüber kompensiert dennoch nicht die Kosten, die wir in einem armen Land wie Bolivien am Ende dafür draufzahlen.”
Julia Jaroschewski ist freie Auslandsreporterin und auf Lateinamerika spezialisiert.
jujaroschewski@gmail.com