Flüchtlinge
Mehr als Wohnen und Essen
Der Ort des Geschehens ist die Stadt Saida, eine Autostunde südlich von Beirut. Da es regnet, findet die Kunstaktion mit den Flüchtlingen nicht draußen, sondern in den Räumen einer lokalen Bürgerinitiative statt. Der Geruch der Farben beißt in der Nase, die Fenster sind weit geöffnet. Auf dem Boden liegen bereits große weiße Planen aus Tarpaulin bereit, einem Material, das normalerweise für Lkw-Planen und Zirkuszelte benutzt wird.
Gemeinsam mit Teilnehmern der Aktion trifft Künstler Hermann Josef Hack letzte Vorbereitungen: Er hantiert mit einem Dutzend Eimern und Dosen in verschiedenen Größen, mischt eine besonders wetterfeste Siebdruckfarbe. „Die Bilder sollen ja auch draußen auf den Plätzen stehen,“ erklärt der Künstler, etwa vor dem Kölner Hauptbahnhof und dem Dom.
Aus den bemalten Planen baut Hack in seinem Atelier in Siegburg bei Bonn dann Flüchtlingszelte in Miniatur oder lebensgroß. Die Zelte platziert er an ungewöhnlichen Orten – mal am Frankfurter Flughafen, mal in Berlin vor dem Brandenburger Tor. Dort sollen die Kunstobjekte Aufmerksamkeit erregen und für das Thema Flucht sensibilisieren.
Außerdem verschenkt Hack bemalte Planen an Flüchtlinge, damit diese damit ihre einfachen Behausungen verstärken oder verschönern. Global Brainstorming nennt der Künstler das Projekt, das er und sein Kollege, der Fotograf und Verleger Andreas Pohlmann, initiiert haben.
Haifa Al Atrash streift einen blauen Gummihandschuh über, taucht die Finger in den Farbeimer und verteilt mit geübten Bewegungen Farbe auf ihrem Bild. Die 40-jährige Lehrerin ist selbst Malerin und Bildhauerin.
Flucht hat ihr ganzes Leben geprägt. Ihre Großeltern wurden 1948 aus Palästina vertrieben und ließen sich in Syrien nieder. Ein großer Teil der Familie lebte jahrzehntelang in Yarmuk bei Damaskus, das sich von einem Lager zu einem eigenen Stadtteil entwickelte. Ende 2012 konnte Haifa Al Atrash mit ihrem Mann und ihren drei Kindern aus dem schwer umkämpften Viertel entkommen, ehe es fast völlig zerstört und entvölkert wurde.
Die Familie hat im Südlibanon ein Zuhause auf Zeit gefunden, doch die Zukunft ist ungewiss. Während sie erzählt, malt Haifa Al Atrash mit dickem Pinsel die Bilder, die ihr täglich im Kopf herumspuken: das Meer, hohe Wellen, überfüllte Flüchtlingsboote, ein SOS-Hilferuf: „Eine Freundin von mir ist mit ihren drei Kindern ertrunken, ebenso ein sehr guter Freund meines Mannes,“ erzählt sie. Andere Bekannte sind in Libyen in der Wüste gestorben. „Es ist sehr schwer, ständig Menschen zu verlieren, die einem nahe standen“.
Die Kunstgruppe in Saida ist so vielfältig wie der Nahe Osten. Es sind Syrer, Palästinenser, Libanesen, Muslime und Christen, Erwachsene und Kinder. Die Erwachsenen malen eher ihre traumatischen Erfahrungen und politische Motive. Die Kinder hingegen stellen meist ihre Sehnsüchte dar: das verlorene Elternhaus, die Blumen im Garten und immer wieder die Schule.
Die meisten Kinder aus Syrien können im Libanon nicht die Schule besuchen. Auch Jala Al Khatib malt ihr ehemaliges Klassenzimmer. Sie war neun, als ihre Eltern Syrien verließen. Jetzt ist sie elf und hat zwei Jahre Schule verpasst. „Wir brauchen die Schule dringend“, sagt das aufgeweckte Mädchen. „Aber wir haben kein Geld für den Schulweg.“
Jala hat drei Brüder, ihr Vater Khaled ist Elektroingenieur, die Mutter Fatima studierte Jura. In Damaskus hatten beide Eltern gute Jobs, die Familie bewohnte eine komfortable Stadtwohnung. Jetzt hausen sie zu sechst in einem umgebauten Lagerraum, sind auf Geldspenden und Lebensmittelpakete angewiesen. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb war die ganze Familie sofort dabei, als die Einladung zum Kunstprojekt kam.
Ein Stück Menschlichkeit
Fatima Al Khatib malt gemeinsam mit anderen Frauen einen Schlüssel auf eine Plane – den Schlüssel zur verlorenen Heimat. Früher in Damaskus habe sie regelmäßig das Theater und Konzerte besucht, erzählt sie. Im Libanon sei das für sie unbezahlbar.
Natürlich löse ein Kunstprojekt wie dieses nicht die Probleme der Flüchtlinge, sagt Fatima. Dennoch sei sie dankbar für die Einladung zum Workshop mit Hermann Josef Hack, denn das Projekt bringe ein Stück Menschlichkeit zurück. „Ich habe zum ersten Mal seit der Flucht in den Libanon das Gefühl, dass jemand uns als Menschen wahrnimmt, die nicht nur wohnen und essen müssen, sondern die auch kulturelle Bedürfnisse haben.“
Martina Sabra ist freie Journalistin.
martina.sabra@netcologne.de