Fernsehen
Das Geld zählt
Anfang dieses Jahres brach der fünfzehnjährige Pranav Dhanawade aus Kalyan im Bundesstaat Maharashtra den mehr als hundert Jahre alten Kricket-Rekord über die meisten Punkte in einem Inning, also einem Spieldurchgang. Er sammelte 1009 Punkte bei einem Schulturnier für unter 16-Jährige.
Indiens Mainstream-Medien feierten den Teenager exzessiv. Was sie nicht erwähnten, war die Einseitigkeit des Spiels. Dhanawades Team war der anderen Mannschaft so stark überlegen, dass es die meisten seiner Runden gar nicht gebraucht hätte. Der Trainer der anderen Schulmannschaft hatte deutlich jüngere Schüler eingesetzt, weil die meisten seiner U16-Spieler nicht verfügbar waren. Seine beiden Hauptwerfer waren nur etwa zehn Jahre alt. Sie hatten nie zuvor bei einem Spiel einen normal großen Ball in den Händen gehalten oder auf einem 20,12 Meter langen Standardfeld gespielt.
Schulen sollten Schüler ermutigen, Werte wie Fairness, Respekt, Kameradschaft und Liebe zum Sport zu entwickeln. In diesem Fall aber wurde ein Jugendlicher dazu angestachelt, rücksichtslos seinen Ehrgeiz auszuleben. Dhanawade ist zu jung, um dafür verantwortlich gemacht zu werden. Die Teamleiter hätten eingreifen und seine Triumph-Schau stoppen müssen.
Dass sie das nicht getan haben, hat auch mit dem politisch-ökonomischen Kontext zu tun. Kricket wurde in Indien immer wieder neu definiert. Im Laufe dieses Prozesses hat es an ethischem Anspruch verloren und wurde seiner gemeinschaftfördernden Werte beraubt. Das Gentleman’s Spiel, als das es früher bekannt war, ist jetzt ein großes Geschäft und unter dem kommerziellen Druck extrem wettbewerbsorientiert.
Massenattraktion
Ein talentierter junger Kricketspieler kann heute in der indischen Premier League bis zu 1,25 Millionen Dollar im Jahr verdienen. Bringt er ein paar Jahre gute Leistungen, kann er zum Star und einer Werbemarke werden und vielleicht sogar 20 Millionen Dollar verdienen.
Kricket, ein unverkennbares Produkt des britischen Imperialismus, war in Indien schon immer sehr populär. Vor einigen Jahrzehnten wurde das eintägige neue internationale Spielformat Twenty20 eingeführt – deutlich kürzer als das klassische Fünftage-Format. Diese Neuerung bescherte dem Kricket neue Anhänger, die das Spiel mit seinen komplexen Regeln vorher langweilig fanden.
1983 gewann Indien überraschend die Weltmeisterschaft gegen die bis dato als unbesiegbar geltenden Westindischen Inseln. 1987 richteten Indien und Pakistan gemeinsam die Weltmeisterschaft aus, was die Popularität des Sports im Land weiter steigerte. Danach wurde jeder öffentliche Platz, egal wie groß, zum Kricketfeld, mit improvisierter Ausrüstung und dem Ort angepassten Regeln. Kinder spielten auf den Straßen, auf Spielplätzen und selbst in Schulkorridoren Kricket.
Als Zuschauerspiel spielte Kricket damals kaum eine Rolle. Durch das staatliche Sendermonopol und den sehr beschränkten Zugang zu Fernsehgeräten konnten deutlich weniger Leute die Spiele verfolgen. Kricket wurde tatsächlich viel mehr gespielt als geschaut. Das war, bevor Indien 1991 offiziell sein Wirtschaftsliberalisierungsprogramm auf den Weg brachte und sich der Welt öffnete.
Medienliberalisierung
Die Geschichte des Krickets nach 1991 entspricht in vielerlei Hinsicht der Geschichte Indiens. Indiens Binnenmarkt ist groß, und die wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik hat den Privatsektor beflügelt. Zudem brachte sie erhebliche ausländische Investitionen. Der Verbrauchermarkt ist stark gewachsen, ebenso wie die Mittelschicht. Das Fernsehen und besonders Kricket wurde zur Brücke zwischen Markt und Konsumenten.
In der Vergangenheit gab es in Indien einen einzigen staatlichen TV-Sender. Heute hat ein durchschnittlicher städtischer Haushalt Zugang zu mehreren hundert Privatsendern in verschiedenen Sprachen und mit verschiedenen Schwerpunkten, darunter eigene Kricketsender. Heute konsumieren die Menschen – insbesondere die Mittelschicht – Kricket zu Hause. Die übertriebene Konzentration auf Kricket hat andere Sportarten verdrängt, darunter Hockey, das Indien acht seiner bisher neun olympischen Goldmedaillen gebracht hat.
Schätzungen zufolge trägt Indien derzeit mehr als 75 Prozent zu den weltweiten Einnahmen des internationalen Kricketdachverbands International Cricket Council (ICC) bei. Die Beträge, die in Indien für Sponsoring, Sende- und Lizenzrechte ausgeben werden, sind mit denen für andere populäre Sportarten weltweit vergleichbar. Im Oktober 2014 haben sich Star India und Star Middle East, die zu Rupert Murdochs US-Medienunternehmen 21st Century Fox gehören, angeblich bereit erklärt, dem ICC rund 2 Milliarden Dollar für die Kricket-Senderechte von 2015 bis 2023 zu zahlen. Ein einziges Turnier kann dem ICC heute Einnahmen in Höhe von 60 Millionen Dollar bringen. 90 Prozent davon stammen aus Werbung, die auf den indischen Markt abzielt.
Die Kricket-Aufsichtsbehörde in Indien (BCCI) hat ihr wirtschaftliches Gewicht auf der internationalen Bühne einige Male strategisch – und zumeist auf rücksichtslose Weise – genutzt, um sich Vorteile zu verschaffen. Sie hat Schiedsrichter ablösen lassen, für die Interessen von Sponsoren gekämpft und sich Reformen verweigert, darunter auch Anti-Doping-Maßnahmen. Bei Korruption dagegen, sowohl auf dem Spielfeld als auch in anderen Bereichen, drückte sie ein Auge zu. Die BCCI wird von mächtigen Politikern geführt. Ihr Mandat, für den Aufbau einer guten Infrastruktur und bessere Möglichkeiten zur Förderung des Sports zu sorgen, hat sie nicht erfüllt.
Spielabsprache-Skandale
Die Sportverwaltung in Indien war bisher im Großen und Ganzen eine Bastion der Vetternwirtschaft und der Korruption. Ein Beispiel: 2014 suspendierte das Internationale Olympische Komitee das Indische Olympische Komitee für 14 Monate wegen Korruption, Einmischung seitens der Regierung und Nichtbefolgung von Richtlinien.
Um die Jahrtausendwende wurde das indische Kricket von Wett- und Spielabsprache-Skandalen erschüttert. Mehrere Spieler wurden angeklagt, suspendiert und gesperrt, weil sie spielrelevante Informationen an Buchmacher weitergegeben oder sich bereit erklärt hatten, Spiele absichtlich zu verlieren. Für Millionen Fans war das ein Tiefpunkt. Am Ende intervenierte das Höchste Gericht Indiens und ernannte ein dreiköpfiges Komitee unter Vorsitz eines ehemaligen obersten Richters, das Vorschläge für die Säuberung des Systems ausarbeiten sollte.
Unterdessen hatten engagierte Sportfans begonnen, sich für anderen Sportarten wie Fußball, Tennis und Motorsport zu interessieren. Besserer Zugang zu internationalen Medien trug zu dieser Entwicklung bei. Um wieder aufzuholen, führte der BCCI TV-freundliche Formate ein. Die Indische Premier League, die auf eintägigen Twenty20-Spielen basiert, wurde etabliert. Das trug dazu bei, die schwindende Popularität des Sportes wiederzubeleben.
Beim Kricket geht es nicht mehr ums Dabeisein oder darum, selbst zu spielen, sondern darum, Bilder eines erbitterten Wettkampfes zu konsumieren. Der Sport ist zu einer spaltenden Praxis geworden, die Distanz, Anderssein und Wettbewerb feiert, und zwar auf Kosten von Kontakt, Einheit und Kooperation.
Patriotismustest
Kricket wird als plumpes politisches Instrument benutzt, um „andere“ zu markieren. Die Unterstützung der Nationalmannschaft gilt zum Beispiel als Zeichen von Patriotismus. Vor kurzem wurden 67 indische Studenten festgenommen, weil sie in Indien dem pakistanischen Team zugejubelt hatten. In Pakistan sieht es nicht besser aus. Dort drohen einem jungen Mann – erklärter Fan des indischen Kricketspielers Virat Kohli – bis zu zehn Jahre Gefängnis, weil er nach einem Sieg Indiens über Australien die indische Flagge gehisst hat. Als indischer Muslim wurde ich selbst als Kind häufig provokativ von Schulkameraden gefragt, ob ich mich freue, wenn Pakistan ein Spiel gewinnt.
Derzeit liegen die sportlichen Beziehungen zwischen den erbitterten Rivalen Indien und Pakistan auf Eis, weil Indien Pakistan vorwirft, Terrorgruppen zu unterstützen. Ganz ähnlich untersagt der indische Bundesstaat Tamil Nadu Sportlern aus Sri Lanka, auf seinem Gebiet zu spielen, um gegen die Behandlung der Tamilen in dem Inselstaat zu protestieren. Politische Gruppen fordern von der Regierung, Kricketspieler aus diesen beiden Nachbarländer nicht in der indischen Premier League spielen zu lassen. Trotz der gemeinsamen Liebe für den Sport in Südasien wird er absurderweise häufiger dazu benutzt, Gemeinschaften zu trennen als die Beziehungen zwischen ihnen zu stärken.
Kricket ist nach wie vor der populärste Sport in Indien. Er ist durch und durch ökonomisiert und politisiert, aber er hat immer noch die Macht, selbst einen desillusionierten Fan vor dem Fernseher zu halten, wenn es spannend ist. Die Zukunft des Krickets hängt davon ab, ob es seinen Funktionären und Anhängern gelingt, es aus der unbarmherzigen Tyrannei des Wohnzimmers zu befreien und zurück in die galis und maidans (Straßen und Parks) zu bringen. Der einzige Weg, das Spiel zu erhalten, ist, es weiter zu spielen.
Faiz Ullah arbeitet für die School of Media and Cultural Studies am Tata Institute of Social Sciences in Mumbai
faiz.ullah@tiss.edu