Interview

Verpasste Gelegenheit

Weil die Zentralbanken reicher Nationen die Zinsen niedrig halten, strömt billiges Geld in Schwellenländer. Aus Sicht der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) sollten diese Mittel für Investitionen in physische und soziale Infrastruktur genutzt werden. Iwan J. Azis vom ADB-Büro für Regionalintegration erläutert die Gründe im Interview mit Hans Dembowski.
Billiges Geld kann in Asien Spekulationsblasen verursachen: Wachmann in der Indonesian Stock Exchange (IDX) in Jakarta. Bagus Indahono/picture alliance/dpa Billiges Geld kann in Asien Spekulationsblasen verursachen: Wachmann in der Indonesian Stock Exchange (IDX) in Jakarta.

Republikanische Abgeordnete im US-Kongress haben im Oktober damit gedroht, ihr Land zahlungsunfähig zu machen. Sie wollten die Gesundheitsreform von US-Präsident Barack Obama stoppen und das Haushaltsdefizit eindämmen. Einige drohen damit, das Drama mit dem Schuldenlimit in einigen Wochen zu wiederholen. Sollten die USA tatsächlich zahlungsunfähig werden, wäre das so schlimm wie 2008 die Pleite von Lehman Brothers?

Nein, es wäre viel schlimmer. Lehman Brothers war nur eine Bank, allerdings eine große. Die Krise betraf vor allem den Finanzsektor. Die Zahlungsunfähigkeit der mächtigsten Nation der Welt hätte eine ganz andere Dimension. In asiatischen Schwellen- und Entwicklungsländern hat nur eine Minderheit, vielleicht fünf Prozent der Menschen, mit dem Finanzsektor zu tun. Aber die überwältigende Mehrheit, bis zu 90 Prozent, würde vom Kollaps des Welthandels betroffen. Dabei geht es nicht nur um Industriewaren, sondern auch um Agrargüter wie Gummi oder Palmöl.

Warum würde der Handel betroffen?

Wenn die USA zahlungsunfähig werden, wird das das globale Finanzsystem erschüttern, mit gravierenden Folgen für Investitionen, Konsum und so weiter. Die Amerikaner müssten dann sofort ihre Konsumausgaben reduzieren. Sie würden sofort weniger aus Asien importieren. Die meisten Verbraucherwaren kommen aus China, aber sie enthalten viele Zulieferungen aus anderen asiatischen Ländern. Elektronische Bausteine werden auf den Philippinen gefertigt und von dort nach Thailand geliefert, wo sie zu Festplatten montiert werden. Diese Festplatten wiederum sind Komponenten von Computern, die China in die USA oder in die EU exportiert. Wenn die Nachfrage in den USA einbricht, kriegt das die ganze Lieferkette zu spüren. Hoffentlich passiert das nie – ich glaube auch nicht, dass es so weit kommt. 

Die Geldpolitik der Zentralbanken in Nordamerika und Europa ist zur Zeit sehr locker, weil sie Kredit billig halten wollen. Es liegt ihnen daran, in der reichen Welt Investitionen nach der globalen Finanzkrise anzuregen. Das Schlagwort heißt Quantitative Easing (QE). Was bedeutet diese Politik für Schwellenländer?

Die Wirkung ist beachtlich. Sie müssen bedenken, wie Banken normalerweise arbeiten. Sie nutzen die Einlagen ihrer Kunden, wir nennen das „Core Liabilities“, um anderen Kunden Kredite zu gewähren. Das sind die beiden Seiten ihrer Bilanz. Sie leben davon, höhere Zinsen für Kredite zu verlangen, als sie für Einlagen zahlen. So läuft das normalerweise...

…aber derzeit nicht?

Nein, denn die Zentralbanken in Nordamerika, Europa und Japan implementieren abnormale Politik. Das bedeutet, dass Banken in Schwellenländern viel billiges Geld bekommen – wir können das an dem Wachstum ihrer Non-core Liabilities  ablesen. Für diese Mittel müssen sie nicht viel bezahlen. Und was macht eine Bank, wenn das Geld billig ist? Wird sie risikoscheuer oder risikofreudiger? Sie wird natürlich risikofreudiger, weil niedrige Zinsen ein Anreiz sind, die Geschäftstätigkeit auszudehnen. Folglich vergeben die Banken soviel Kredit wie sie irgend können, vor allem für Immobilieninvestitionen und Konsum. Sie stützen sich dabei auf kurzfristige, volatile Non-core Liabilities. So entstehen Spekulationsblasen. Gleichzeitig kaufen sie Wertpapiere, Aktien, Staatsanleihen et cetera, sodass ihre Bilanzen immer mehr denen von institutionellen Anlegern ähneln. Beide Praktiken sind Konsequenzen des billigen Geldes – und beide sind hochriskant.

Warum führen niedrige Leitzinsen in der reichen Welt zu billigem Geld in Schwellenländern?

Das liegt daran, dass Investoren in Industrieländern höhere Erträge wollen, als die rund 0,7 Prozent Zinsen, die aktuell in den USA für Treasuries mit dreijähriger Laufzeit bezahlt werden. In Asien sind die Zinsen höher, also legen sie ihre Mittel dort an. In einem asiatischen Land gibt es sogar noch acht Prozent. Das ist viel mehr. Die Risiken sind in Asien auch größer, aber die Anleger fühlen sich dort und in anderen Schwellenländern sicher. 

Warum nutzen nordamerikanische und europäische Banken das billige Geld nicht, um Investitionen in die Realwirtschaft ihrer Länder zu finanzieren?

Das tun sie durchaus, aber sie investieren viel Geld in anderen Ländern, etwa in Asiens „Emerging Economies“. Zugleich müssen sie aber auch ihre Bilanzsummen reduzieren, weil sie vor der Krise zu viele Darlehen vergeben haben. Sie sitzen auf einem Berg fauler Kredite und sind entsprechend risikoscheu. Zum anderen wachsen die Volkswirtschaften in der reichen Welt nur langsam oder gar nicht, so dass nur wenige Anleger Geld in realwirtschaftliche Produktionsanlagen stecken wollen. Banken in Schwellenländern haben solche Sorgen nicht. 

Im Mai kündigte die Federal Reserve (Fed) in den USA an, sie werde bei Gelegenheit die Zinsen wieder anheben. Sie verwendete den Begriff “to taper”. Sofort floss Kapital aus Schwellenländern zurück in die USA. Der Effekt war stärker als die Fed erwartet hatte, und jetzt scheint es, dass sie mit dem Tapering noch eine Weile warten wird. Es ist aber klar, dass Schwellenländer verwundbar sind, wenn heißes Geld plötzlich abgezogen wird.

Aus mehreren Gründen glaube ich nicht, dass sich die asiatische Finanzkrise von 1997 wiederholen wird. Asiens Finanzsektoren sind jetzt viel größer und besser reguliert, die Wechselkurse sind flexibler und es haben auch längst nicht so viele Privatfirmen so hohe Schulden in ausländischen Währungen wie dem Dollar wie damals. Außerdem sind die Währungsreserven viel größer als 1997. Dennoch hat die Tapering-Ankündigung im Mai gezeigt, dass das Geld nicht für immer billig bleibt. Zudem wurde deutlich, dass Indien und Indonesien – zwei Schwellenländer mit hohen Zahlungsbilanz- und Haushaltsdefiziten – besonders getroffen wurden. 

Also war die Ankündigung der Fed eine schlechte Nachricht.

Nein, sie war ein Warnsignal, und auf gewisse Weise, sogar eine gute Nachricht, denn die Grundlage war, dass es der US-Wirtschaft allmählich besser geht. Ich interpretiere das als eine Botschaft an die Regierungen von asiatischen und anderen Schwellenländern. Bisher haben sie die Gelegenheiten verpasst, die das billige Geld bietet. Sie hätten damit massiv die Infrastruktur ausbauen sollen, denn das ist die Grundlage für künftiges Wachstum. Ich denke dabei nicht nur an die physische Infrastruktur, sondern auch an die soziale. Es rechnet sich ökonomisch, in Bildungs- und Gesundheitswesen zu investieren. Dafür sollten Staaten das billige Geld nutzen. Diesen Rat gibt ihnen jedenfalls die Asiatische Entwicklungsbank, und es ist dafür auch noch nicht zu spät, denn noch sind die Zinsen niedrig. In Asien glauben wir, dass jede Krise auch Chancen bietet – bisher wurden diese aber nicht ergriffen.  

Ist QE das richtige Konzept. Diese Politik hat die Volkswirtschaften Europas und Nordamerikas gestützt, aber der Aufschwung nach der großen Rezession bleibt schwach.

Ich denke, QE verschafft uns Zeit. Diese Politik lässt die Volkswirtschaften weiter atmen, obwohl noch gewaltige Aufgaben anstehen. QE ist ein ungewöhnliches Instrument in einer ungewöhnlichen Situation.

Was müssen europäische Entscheidungsträger tun, um ihrer globalen Verantwortung gerecht zu werden?

Europas Problem ist, dass Sie die Integration zu schnell vorangetrieben haben. Sie haben eine Währungsunion, aber keine politische Union. Es hieß, wenn es erst einmal die Währungsunion gibt, wird die politische Union schon folgen. Aber als die Krise ausbrach, mussten Sie feststellen, dass sie keine gemeinschaftliche Einlagensicherung haben, dass es Ihnen an einer Bankenunion fehlt. Sie koordinieren auch die Haushaltspolitik der EU-Mitglieder nicht genügend gut. Um Vertrauen wieder herzustellen und Europa wieder auf einen gesünderen Wachstumspfad zu bringen, müssen die entsprechenden Institutionen geschaffen werden. Erfolg wäre gut für die ganze Welt.

Was ist wichtiger, mit Sparpolitik die Haushalte zu konsolidieren oder die europäische Integration voranzutreiben?

Die europäische Integration ist wichtiger. Ohne die richtigen Institutionen gibt es keine ökonomische Erholung. Austerität ist richtig, wenn Regierungen unnötige Ausgaben streichen. Dafür bin ich natürlich. Aber allzu oft kürzen sie den Aufwand für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur – und darauf beruht, wie ich bereits sagte, künftiges Wachstum. Diese Art von Sparpolitik ist ungesund.

Iwan J. Azis lehrt Volkswirtschaftslehre an der Cornell University in den USA und leitet das Büro für Regionalintegration der Asiatischen Entwicklungsbank. Er äußert hier seine persönliche Meinung. iaszis@adb.org