Häusliche Gewalt
Überall der gleiche Schmerz
Am 24. Juni 2011 ging Titilayo morgens zu ihrem Büro in einer Bank in der nigerianischen Großstadt Lagos. Anlässlich des Geburtstages ihres Mannes verließ sie die Arbeit früher als sonst, und schaffte es, durch den dichten Verkehr rechtzeitig nach Hause zu kommen, um ein großes Geburtstagsessen zu kochen. Um Mitternacht war Titilayo tot, brutal ermordet von Arowolo – ihrem Ehemann.
Laut Polizeiberichten war die Ehe von Gewalt geprägt. Titilayo ist bereits mindestens zehn Mal ausgezogen, kehrte aber immer nach wenigen Tagen zurück. Manchmal erschien sie bei der Arbeit mit blauen Flecken und erzählte ihren Kollegen, dass sie die Treppe runtergefallen sei.
An jenem Abend hatten sich die Eheleute – wie so oft – gestritten; die Nachbarn achteten schon nicht mehr darauf. Am nächsten Morgen war die Frau tot. Die Jagd auf den Ehemann begann.
Der öffentliche Aufschrei in Nigeria war enorm. Obwohl häusliche Gewalt mit Todesfolge nicht allzu selten ist, waren die Nigerianer von der Brutalität schockiert, mit der Titilayo hingemetzelt wurde. Laut Autopsie-Bericht hatte sie 76 Messerstiche in Brust, Bauch, Hals, Schultern und Augen, die sie sich nicht selbst beigebracht haben konnte, wie ihr Mann später vor Gericht behauptete. Am 21. Februar 2014 sprach ein Gericht in Lagos Arowolo des Mordes an seiner Frau schuldig und verurteilte ihn zum Tod. Er sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis und hat Berufung gegen das Urteil eingelegt.
Überall die gleiche Machtlosigkeit
Tausende von Kilometern entfernt in Indien hat Shobana ebenfalls eine traurige Geschichte zu erzählen: In ihrem Fall sind es Schwiegermutter und Schwägerinnen, die sie fast täglich verprügeln. Wenn diese sie schlagen, duckt sich Shobana in eine Ecke. Ihr Ehemann hat vier Brüder und drei Schwestern; alle leben im Haus der Großfamilie in Delhi. Shobana muss kochen, Wäsche waschen, spülen, das Haus sauber halten und Dinge für ihre Schwiegermutter erledigen.
„Mein Mann schlägt mich nicht, aber er verhindert nicht, dass seine Schwestern das tun“, erklärt sie. „Er hat mir gesagt, dass er mich nur geheiratet hat, weil seine Mutter das so wollte, damit sie jemanden bekommt, der den Haushalt macht.“
Toyin, eine andere Frau aus Nigeria, wird von ihren Schwiegereltern gut behandelt, aber ihr Ehemann schlägt sie schon aus nichtigen Gründen. Inzwischen ist sie eine Expertin darin, ihre Blutergüsse mit Make-up zu überdecken, wenn sie zur Arbeit geht. „Ich bin gebildet und habe einen Job“, sagt sie, „aber welcher andere Mann würde mich jetzt heiraten mit drei Kindern? In Nigeria ist eine gescheiterte Ehe eine Schande.“ Der Mord an Titilayo ist noch nicht Warnung genug, damit Toyin ihren gewalttätigen Ehemann verlässt. Rigide soziale Normen sind stärker als der Wunsch, das eigene Leben und Wohlergehen zu sichern.
Laut einer globalen Studie der Weltgesundheitsorganisation von 2013 haben 70 Prozent aller Frauen weltweit häusliche Gewalt erlebt. Die Nigerian National Demographic Health Survey von 2008 schätzt, dass 28 Prozent aller verheirateten Frauen einer Form von häuslicher Gewalt ausgesetzt waren. 31 Prozent aller indischen Ehefrauen sind laut National Family Health Survey von 2009 physisch misshandelt worden.Bei häuslicher Gewalt geht es um Machtausübung und Kontrolle. In vielen Gesellschaften werden Jungen so erzogen, dass sie sich gegenüber Mädchen für überlegen halten. Als Erwachsener fühlt ein Mann sich dann angegriffen, wenn er eine Frau ihm widerspricht, und er unterdrückt sie dann womöglich mit Gewalt.
Ein in Kultur und Traditionen verankertes patriarchales System sowie fehlende Unterstützungsmechanismen tragen die Schuld an dieser Fehlentwicklung in Indien und Nigeria. Die Opfer haben gelernt, zu schweigen und nicht öffentlich zu machen, was als Familienangelegenheit betrachtet wird. In Nigeria ebenso wie in Indien bleiben viele Frauen in gewalttätigen Ehen, weil alleinstehende oder geschiedene Frauen stigmatisiert sind. Die Polizei ist in beiden Ländern keine Hilfe. Oft wird berichtet, dass sie Opfern raten, nach Hause zu gehen und sich zu versöhnen, mit der Begründung, dass Frauen akzeptieren müssen, für „falsches Benehmen“ von ihren Männern diszipliniert zu werden.
Protestwelle in Nigeria
Viele Nigerianer betrachten den brutalen Mord an Titilayo als einen Wendepunkt in der Haltung der Gesellschaft zu Gewalt in der Ehe. Viele Familien nehmen nun die Angriffe gegen ihre verheirateten Töchter ernster als früher. In letzter Zeit zeigen mehr Frauen Fälle von häuslicher Gewalt bei der Polizei an. Religiöse Organisationen, die häusliche Gewalt bisher als dämonische Angriffe auf die Ehe abgetan hatten, ändern allmählich ihre Ansichten. Mit Rücksicht auf kulturelle und spirituelle Gefühle würden die meisten zwar keine Scheidung empfehlen, raten nun aber zu einer „vorübergehenden“ Trennung. Bis jetzt haben religiöse Organisationen geschiedene Frauen ausgeschlossen, aber die jüngsten Ereignisse lassen sie ihre Haltung überdenken. Sowohl Kirchen als auch Moscheen bieten nun Beratung an, und manchmal sogar finanzielle Unterstützung für Frauen, die ihre Männer verlassen mussten.
Auch Gerichte nehmen Fälle von häuslicher Gewalt nun ernster. Amtsrichter hatten in der Regel streitenden Ehepaaren empfohlen, „nach Hause zu gehen und Ruhe zu geben“, und sogar bei schweren Körperverletzungen von Frauen zur Versöhnung geraten. Obwohl sich die Einstellung verändert, werden nach wie vor viele Anzeigen von häuslicher Gewalt nicht verfolgt. Nur Fälle von Mord und schwerer Körperverletzung landen vor Gericht. Gewalt in der Ehe kann auch wegen eines unzureichenden Rechtssystems weiter bestehen bleiben. Die Nationalversammlung Nigerias hat sich bisher geweigert, internationale Konventionen zum Schutz von Frauen in das nigerianische Recht zu integrieren, mit der Begründung, dass dies kulturelle und religiöse Konzepte verletzen würde.
Dennoch sind Teile der nigerianischen Gesellschaft ihrem Rechtssystem voraus. Josephine Effah Chukwuma, Geschäftsführerin von Project Alert, einer nigerianischen Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich für Frauenrechte einsetzt, meint, dass sich die gesellschaftliche Haltung und das Verständnis von häuslicher Gewalt und deren Folgen sehr verbessert habe. „Aufklärung hat viel gebracht”, erklärt sie. „Väter und Brüder helfen nun ihren Töchtern und Schwestern.“
Chukwuma betont, „das Schweigen ist gebrochen“. Ihr zufolge gibt es nun bessere Unterstützung für betroffene Frauen, aber es muss noch viel mehr getan werden, vor allem seitens öffentlicher Einrichtungen wie Polizei, Krankenhäuser und Gerichte. „Die meisten Hilfsangebote kommen nach wie vor von NGOs“, sagt Chukwuma. Auch im Norden Nigerias ist die Lage noch immer besonders schlecht. Frauen werden wie Menschen zweiter Klasse behandelt und körperlich und sexuell misshandelt. (siehe Damilola Oyedele, E+Z 2014/06, S. 263)
Erniedrigte Frauen in Indien
Der Weltentwicklungsbericht 2013 des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) führt Indien bezüglich Geschlechterungleichheit an 132. Stelle von 148 Ländern auf. Trotz verbesserter Bildung und wirtschaftlichen Erfolgs von Frauen ist das patriarchalische System dort weiterhin fest verankert. Cequin, eine Non-Profit-Organisation, die von der Stadt Delhi gefördert wird, arbeitet vor allem mit moslemischen Frauen aus armen Haushalten. Ihre Kampagne Awazuthao („erhebe deine Stimme“) organisiert Proteste und andere Aktivitäten, um die gesellschaftliche Haltung gegenüber Frauen zu ändern.
Laut Bushra Qmar von Cequin ist Gewalt in der Ehe ein heikles Thema in der indischen Gesellschaft. Für ärmere Frauen sei es einfacher, Vorfälle anzuzeigen – obwohl die Polizei dies möglicherweise nicht verfolgt –, aber es gebe kaum bekannte Fälle in der Oberschicht. Dies hänge wohl damit zusammen, dass die oberen Klassen respektabel wirken wollen, erklärt Gemeindearbeiter Amin Mohammed von Cequin. Ähnlich wie der Mord an der jungen Bankerin Titilayo in Nigeria schockierte die Massenvergewaltigung einer Studentin mit Todesfolge am 16. Dezember 2012 in Delhi die indische Gesellschaft und rief eine öffentliche Missachtung der Tat hervor. Daraufhin wurde zwar eine Reihe von Schnellgerichten speziell für Vergewaltigungsfälle eingerichtet, doch es existieren weiterhin viele Schlupflöcher im Rechtssystem.
Ein schreckliches Beispiel sind die Mitgiftmorde, die die schlimmste Form von häuslicher Gewalt bleiben. Ehefrauen werden dabei von den angeheirateten Verwandten ermordet, weil sie nach Ansicht ihrer Männer oder seiner Familie nicht genug Mitgift in die Ehe gebracht haben. Das National Crime Bureau verzeichnete 8233 Mitgiftmorde im Jahr 2012 und 8618 im Jahr davor. Trotz eines Mitgift-Verbotes (Dowry Prohibition Act) wurde in beiden Jahren nur etwa ein Drittel der Mörder verurteilt.
Die Inderin Shobana hat einige Monate bei ihrer Mutter gewohnt, kehrt aber nun wieder zu ihrem Ehemann zurück. Sie fragt mit unsicherer Stimme: „Ist es in Ordnung, wenn Sie kein Foto von mir machen? Ich möchte es mir mit meinem Mann nicht verderben. Ich will ihm noch eine Chance geben.”
Eine Konferenz in London über sexuelle Gewalt in Konflikten hat vor kurzem die internationale Aufmerksamkeit auf sexuellen Missbrauch im Krieg gerichtet. Die meisten Frauen auf der Welt erleiden Gewalt jedoch nicht im Krieg, sondern tagtäglich in ihrem eigenen Heim. Sie werden nicht von feindlichen Soldaten gefoltert und ermordet, sondern von ihren Ehemännern und Verwandten. Indien, Nigeria und im Grunde alle Gesellschaften müssen mehr Bewusstsein dafür schaffen, dass Missbrauch abzulehnen ist. Außerdem sollen sie allen Frauen Hilfe bieten, die sich aus gewaltgeprägten Beziehungen befreien wollen.
Damilola Oyedele ist Chefkorrespondentin Ausland/Gender bei der Tageszeitung THISDAY in Abuja, Nigeria.
damiski22@yahoo.com