Entwicklung und
Zusammenarbeit

Elasticsearch Mini

Elasticsearch Mini

Justiz

Fort- und Rückschritt in Thailand

Die Verfassung des Königreichs Thailand von 1997 wurde als Meilenstein der Demokratie gefeiert. Neben einer speziellen Verwaltungsgerichtsbarkeit etablierte sie auch ein Verfassungsgericht, das auf Distanz zur Regierung ging. Leider drehte der Putsch vom September letzten Jahres die Uhren wieder zurück.

[ Von Clauspeter Hill ]

Um die in Thailand praktizierte Demokratie zu verstehen, muss man die Verfassungsgeschichte und die Bedeutung des Königshauses für das Land kennen. Besonders der seit über 60 Jahren herrschende König Bhumibol Adulyadej (der Name bedeutet: Stärke des Landes, unvergleichliche Macht) hat die politische Kultur geprägt.

Die absolute Monarchie endete in Thailand 1932. Mitglieder der Bildungselite, die während der Ausbildung in Europa andere Verhältnisse kennengelernt hatten, hatten massiv protestiert. Zunächst ging es nur darum, die Macht vom Königshaus auf wechselnde Gruppen hochrangiger Bürokraten und Militärs zu verlagern.

Der in der Schweiz ausgebildete Bhumibol Adulyadej bestieg 1946 im Alter von 18 Jahren den Thron. Er galt bislang als Bewahrer der Demokratie. Allerdings erlebte das Land in seiner Amtszeit 18 Militärputsche – 1991 den vorletzten dieser Reihe. Im Jahr darauf gab es blutige Unruhen. Nach drei Tagen gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Militärregierung und Demokratiebewegung zitierte der Monarch die Protagonisten zu sich. Er forderte sie auf, die Gewalt einzustellen und sich über die künftige Gestaltung der Demokratie in Thailand zu einigen.

Daraufhin wurde erstmals über eine echte Beteiligung der Bürger an der politischen Willensbildung in Thailand nachgedacht. Zuvor kannte das Land lediglich eine ineffiziente und korrupte Verstrickung von politischer Elite, Unternehmertum und Militär. Unter diesen Gruppen wurden die Machtverhältnisse sorgfältig verteilt, die Fäden behielt aber der König im Hintergrund in der Hand. Dies gelang ihm aufgrund seines hohen Ansehens in der ganzen Bevölkerung und der im Buddhismus verankerten Überzeugung, nur ein Buddha ähnlicher, starker Herrscher könne die Geschicke des Volkes lenken.

Vorbildliche Regeln

Eine verfassunggebende Versammlung wurde mit dem expliziten Auftrag gewählt, das politische System grundlegend zu reformieren und nicht bloß die Machtbalance neu zu tarieren. Diesmal wurde die Bevölkerung in kontroverse, öffentliche Debatten einbezogen.

Am 11. Oktober 1997 trat die neue Verfassung in Kraft. Sie brach mit der Tradition, der zufolge Militär und Administration Hand in Hand gingen, sodass oft ehemalige Soldaten oder hochrangige Polizisten exekutive Schlüsselpositionen besetzten. Die neue Verfassung führte eine striktere Gewaltenteilung ein. Sie gab insbesondere der Justiz eine größere Unabhängigkeit. Zentrale Elemente der neuen Staatsordnung waren zudem Normen, die die Rechte und Freiheiten der Bürger schützten und amtliche Eingriffsmöglichkeiten begrenzten. Wichtig waren auch Bestimmungen – etwa über Wahlen –, welche die Bevölkerung an politischen Prozessen beteiligten und Amtsträger gegenüber der Öffentlichkeit verantwortlich machten.

Damit war die Dominanz der Bürokratie bei Rechtsetzung und -auslegung weitgehend beendet. Konkrete Formulierungen begrenzten ehemals weite Ermessens- und Regelungsspielräume. Artikel 29 bestimmte ausdrücklich, dass Rechte und Freiheiten nur insoweit eingeschränkt werden durften, wie das die Verfassung selbst vorsah. Noch vor dem Kapitel über die Stellung des Königs wurde in Artikel 6 klargestellt, dass die Verfassung das höchste Gesetz des Landes war und dass alle ihr entgegenstehende Vorschriften nicht länger galten.

Artikel 27 band alle Staatsgewalten an diese Verfassung. Er führte zum ersten Mal das Prinzip des unmittelbar geltenden Verfassungsrechts ein. Ein wesentliches Element davon ist, dass die Durchsetzung der textlich festgelegten Regeln durch Verfahren abgesichert wird. Ohne Mechanismen zur Erzwingung der Verfassungsprinzipien würden wohlformulierte Normen sonst wirkungslos bleiben.

In früheren Verfassungen Thailands war es allein Sache des – oftmals nicht direkt gewählten – Parlaments, die Verfassung zu interpretieren. Vor dem Putsch von 1991 war dieses Recht einem Verfassungstribunal übertragen worden, das allerdings unter der Kontrolle der Exekutive stand. Dieses Tribunal war also keineswegs Bestandteil einer unabhängigen Gerichtsbarkeit.

Deutsche Erfahrungen

1997 wurde dagegen ein unabhängiges Verfassungsgericht eingeführt. Der wesentliche Vorteil solch einer Institution ist, dass es niedrigere Instanzen dazu motiviert, bei allen Entscheidungen zu prüfen, ob bestehende Regeln wirklich verfassungskonform sind. Im Zweifel obliegt die Letztentscheidung nämlich dem Verfassungsgericht und nicht der Regierung oder ihren Behörden, die im Eigeninteresse problematischen alten Normen den Vorrang geben könnten.

Positive Erfahrungen sammelten die Bundesrepublik Deutschland aber auch Österreich nach der Hitlerdiktatur mit solch einer unabhängigen Verfassungsjustiz. Das Bundesverfassungsgericht hat schon mehrfach – etwa in Spanien oder Lateinamerika – als Vorbild gedient, wenn es darum ging, nach autoritärer Herrschaft einen demokratischen Rechtsstaat zu etablieren (Schoeller-Schletter, 2004).

Das galt auch für die thailändische Verfassung von 1997. Dazu trug unter anderem der Rat bei, den die Konrad-Adenauer-Stiftung mit ihrer kontinuierlichen Rechtsstaatsarbeit in Thailand bei den thailändischen Partnern erteilte. Offensichtlich ließen sich auch die Verfassungsrichter vom deutschen Modell inspirieren, immer wieder baten sie in konkreten Fällen um Erfahrungsaustausch. Ihre relativ starke Stellung wurde auch darin deutlich, dass es sich um 15 hauptamtliche Richter handelte, während das Tribunal zuvor nur nebenberuflich tätig gewesen war. Die Mitglieder des Verfassungsgerichts wurden auf Vorschlag des gewählten Senats vom König ernannt.

Vollkommen neu war zudem die Einführung der Verfassungsbeschwerde, die jeder Bürger einlegen konnte (Artikel 28). Zugleich wurden noch andere Wege eröffnet, Entscheidungen von Gesetzgeber und Exekutive gerichtlich überprüfen zu lassen. So konnte etwa der parlamentarische Ombudsmann Fälle vor die Verwaltungsgerichte bringen, wenn er Verfassungsnormen verletzt sah. Selbstverständlich konnte er auch das Verfassungsgericht anrufen.

Diese Reformen werteten die Justiz deutlich auf. Die staatliche Bürokratie unterlag fortan einer objektiven Kontrolle. Tatsächlich entschieden die Gerichte oft gegen Behörden, beispielsweise wenn diese die Bürger an der Planung von Infrastrukturprojekten nicht beteiligt oder Umweltaspekte außer Acht gelassen hatten, obwohl Verfassung und neue Gesetze das vorschrieben. Breite Kreise der Bevölkerung begannen die Justiz als nützlichen Bestandteil des modernen Verfassungsstaates wahrzunehmen. Gerichte aller Instanzen gingen dazu über, Entscheidungen im Lichte der Grundrechte zu fällen.

International wurde Thailand deshalb zu einem Vorbild. Eine Reihe von Entwicklungsexperten hofften, dieses Beispiel werde auch in den asiatischen Ländern Schule machen, die eher autoritäre Führungen aufweisen und nicht als Rechtsstaaten bezeichnet werden können.

Turbulente Thaksin-Ära

Doch in der Amtszeit von Premierminister Thaksin Shinawatra (2001–2006) entwickelte sich erneut ein Konflikt zwischen verschiedenen Politiklagern. Dem Establishment aus Militär und Bürokratie galt er als Emporkömmling; bei der armen Landbevölkerung genoss er dagegen großes Ansehen. Anfang 2006 verschaffte er sich und seiner Familie enorme Vorteile beim Verkauf der Anteile am Telekommunikationskonzern Shin Corp an eine Firma aus Singapur. Dank von ihm eingeleiteter Gesetzesänderungen blieb der Verkaufserlös von rund 1,6 Milliarden Euro steuerfrei.

Um der wachsenden Kritik zu begegnen, rief Thaksin für April 2006 Neuwahlen aus, obwohl die Bevölkerung ihn nur ein Jahr zuvor an den Urnen im Amt bestätigt hatte. Die Opposition boykottierte die Neuwahlen, so dass kein Parlament gebildet werden konnte. Das geltende Recht schrieb nämlich Mindestquoren für die Stimmbeteiligung vor.

Deshalb erklärte das Verfassungsgericht die Aprilwahlen schließlich für ungültig. Neuwahlen wurden für Mitte Oktober 2006 angesetzt. Indessen entließ das Oberste Verwaltungsgericht die Wahlkommission wegen Korruptionsvorwürfen. Somit bewährten sich die obersten Justizorgane augenscheinlich als Hüter der Verfassung und rechtsstaatlicher Prinzipien. Allerdings hatte auch der König eine Rolle gespielt, als er die Richter der höchsten Instanzen aufforderte, eine Lösung zu finden.

Die Generäle greifen ein

Jedoch beendete am 19. September letzten Jahres ein Militärstreich diese rechtsstaatlich-demokratische Entwicklung. Durch Tragen der königlichen Farbe Gelb und entsprechende Verlautbarungen stellte die Armee klar, dass sie sich der Unterstützung des Monarchen versichert hatte. Der „Rat für demokratische Reformen unter der konstitutionellen Monarchie“, wie sich die Junta zunächst nannte, setzte die Verfassung von 1997 außer Kraft und entließ Parlament und Verfassungsgericht. Inzwischen heißt die Junta „Nationaler Sicherheitsrat“. Dass die Offiziere behaupteten, die Demokratie zu retten, mutet ironisch an. Sie verwiesen auf die beschädigte demokratische Kultur, Korruptionsvorwürfe gegen Thaksin und die Eskalation von Unruhen im muslimisch geprägten Süden.

Am 1. Oktober 2006 trat eine Interimverfassung in Kraft. Sie sieht die Ernennung einer Nationalversammlung sowie einer verfassunggebenden Versammlung durch den König vor. Zudem wurde eine Übergangsregierung unter dem früheren General Surayud Chulanont eingesetzt. Letztlich bleiben aber sämtliche Regierungsentscheidungen unter dem Zustimmungsvorbehalt der Junta unter ihrem Führer General Sonthi Boonyaratglin.

Zwar erklärt Artikel 18 der Übergangsverfassung die Justiz für unabhängig, doch das bedeutet nicht viel. Das Verfassungsgericht als Kontrollinstanz wurde nämlich aufgelöst und durch ein Verfassungstribunal mit sorgfältig ausgesuchten Personen ersetzt. Ihm war vor allem die Aufgabe zugedacht, über die Auflösung von politischen Parteien zu entscheiden. In der Hauptsache ging es dabei um die Demokraten, Thailands älteste Partei, und die Thai Rak Thai (Thais lieben Thai) des früheren Premiers Thaksin.

Am 30. Mai wurde zunächst das Verfahren gegen die Demokratische Partei entschieden, die vom Vorwurf der Verletzung des Wahlgesetzes und mithin der Verfassung freigesprochen wurde. Das Urteil über die Thai Rak Thai wurde erst am späten Abend bekanntgegeben: Sie wurde aufgelöst. 111 führende Mitglieder – darunter auch Thaksin – erhielten ein fünfjähriges Politikverbot. Problematisch ist indessen, dass die Militärs die Vorschriften, die Parteiauflösung und Politikverbot regeln, erst nach dem Coup erließen. Rückwirkende Regeln sind rechtsstaatlich fragwürdig. Auch hatte sich wieder der Monarch eingeschaltet. Einige Tage vor dem Urteil ermahnte er die Richter öffentlich, die Folgen ihrer Entscheidungen zu bedenken: Es war mit heftigen Protesten gerechnet worden, die bislang aber ausblieben.

Ein neuer Verfassungsentwurf sieht nun vor, dass das Volk künftig nur die Nationalversammlung wählt, während der König den Senat als zweite Parlamentskammer ernennt. Aus beiden Gremien sollen künftig die Richter der obersten Gerichte berufen werden, womit sich für die Politik wieder große Einflussmöglichkeiten abzeichnen.

Sicherlich hatte der thailändische Rechtsstaat schon unter der Regierung Thaksin Schaden genommen. Der Militärputsch vom September setzte sich aber über alle Grundsätze des demokratischen Rechtsstaats hinweg. Die sich andeutenden Tendenzen für die neue Verfassung scheinen daran vorläufig nichts zu ändern.

Relevante Artikel