Fachliteratur
Industriepolitik kontrovers diskutiert
Der East Asian Miracle Report der Weltbank vertrat 1993 eine klare Position: Die Wachstumswunder in Ostasien lassen sich zuallererst auf makroökonomische Stabilität und gesunde Fundamentaldaten zurückführen, das heißt auf gutes makroökonomisches Management, Freihandel, Infrastruktur- und Bildungsinvestitionen. Der Bericht erkennt wohl an, dass sich viele der Länder auf gezielte Interventionen eingelassen haben, wie zum Beispiel Landwirtschaftspolitik, Exporthilfen, gezielte verbilligte Kredite und aktive Umverteilung. Er stellt jedoch fest, dass es zweifelhaft sei, dass genau diese Faktoren für das Wachstumswunder verantwortlich seien.
Alice Amsden (1994) und viele andere Wissenschaftler kritisierten die Schlussfolgerungen und Empfehlungen des Reports heftig. Amsden wandte insbesondere ein, dass die Weltbank so tue, als ob sich die fundamentalen Faktoren von den interventionistischen einfach trennen ließen. Sie empfahl, dass man lieber herausfinden solle, wie man die Qualität von Institutionen so verbessern könne, dass sie in der Lage seien, die Industriepolitik umzusetzen, die Ostasien so weit nach vorne gebracht hat.
Dann verschwand das Thema wieder aus den Diskussionen. Es schien, als hätte sich die Weltbank mit ihrer Sichtweise durchgesetzt. Erst in den frühen 2000ern kehrte das Thema zurück. John Page, Mitautor des East Asien Miracle Reports zeigte, dass in vielen afrikanischen Ländern südlich der Sahara nach einer kurzen Periode industriellen Wachstums, das stark durch öffentliche Investitionen und Importsubstitution getrieben war, der industrielle Sektor schrumpfte. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes am Bruttoinlandsprodukt im Jahre 2000 war in Pages Daten in den meisten Ländern kleiner als 1985, anders also als in den meisten Ländern Asiens und Lateinamerikas.
Dani Rodrik (2014) argumentiert in die gleiche Richtung. Auch er beklagt das nur schleppende Voranschreiten des Industrialisierungsprozesses in Afrika. Er zeigt, dass selbst bei vergleichbarem Einkommensniveau der Anteil des verarbeitenden Gewerbes sowohl an der Gesamtbeschäftigung als auch am Bruttoinlandsprodukt in Ost- und Südostasien weitaus größer war. Rodrik entwirft eine Wachstumstypologie, die Voraussagen über die zu erwartende Wachstumsgeschwindigkeit macht. Aufgrund der bisher guten Entwicklung in den „Fundamentals“ der aber eben noch schwachen Industrialisierung wird für den afrikanischen Kontinent ein nur langsames Wirtschaftswachstum prognostiziert. Rodrik diskutiert dann vier Politikoptionen: (i) Entwicklung und Förderung des verarbeitenden Gewerbes, (ii) Agrobusiness, (iii) Spezialisierung im Dienstleistungsbereich und (iv) rohstoffbasiertes Wachstum. Rodrik diskutiert die Optionen insbesondere hinsichtlich ihres Potenzials, Arbeitsplätze zu schaffen und kann dabei der Option (i) am meisten abgewinnen. Allerdings geht der Autor davon aus, dass es aufgrund der globalen Nachfrageverschiebungen für Afrika schwerer sein wird, geeignete Nischen zu finden, als dies früher für andere Regionen der Fall war.
Margareth McMillan ( in McMillian und Harttgen, 2014) beurteilt die Entwicklung Afrikas weitaus optimistischer. Sie weist insbesondere auf den stark gestiegenen Anteil der Kleinst- und Kleinunternehmen hin, die viel Arbeit des landwirtschaftlichen Sektors absorbiert haben. Da selbst diese Unternehmen eine höhere Produktivität als die landwirtschaftlichen Betriebe aufweisen, interpretiert MacMillan dies als Zeichen eines beachtlichen Industrialisierungsprozesses, wenn auch eines anderen Typs als bisher in Ost- und Südostasien gesehen.
Einen hervorragenden Überblick über potenzielle Wege der Industriepolitik und Erfahrungen mit Entwicklungspolitik in Ostasien, China, Indonesien, Lateinamerika und Afrika gibt der Sammelband von Adam Szirmai, Wim Naudé und Lucovico Alcorta (2013). Der Grundtenor der Beiträge ist pro Industriepolitik, die Beiträge bieten aber trotzdem einen sehr differenzierten Blick. Für Afrika spricht sich John Page zunächst ähnlich seiner Argumentation im Asian Miracle Report für Maßnahmen zur Verbesserung des Geschäftsklimas, Infrastruktur- und Humankapitalinvestitionen sowie regionale Integration aus. Tilman Altenburg weist im gleichen Band darauf hin, dass zumindest in den Staaten, in denen Politik und Wirtschaft in erster Linie noch durch (korrupte) Eliten dirigiert und kontrolliert werden, Industriepolitik mit hoher Wahrscheinlichkeit ins Leere läuft.
Der Sammelband von Sziermai et al. beinhaltet darüber hinaus noch drei sehr lesenswerte Kapitel, die sich mit Industriepolitik im Zusammenhang von Klimawandel und Nachhaltigkeit auseinandersetzen. Die Beiträge widmen sich Problemen internationaler Koordination, informeller Wertstoffverwertung sowie industriepolitischen Maßnahmen, die gezielt CO2-ausstoßarm sind. Industriepolitik wird als ein Instrument gesehen, das auch einen Beitrag zu den internationalen Klimazielen leisten kann, weil sie beispielsweise die Bedeutung der Landwirtschaft verringert und dadurch die Abholzung der Wälder begrenzt.
Ein weiterer interessanter Sammelband zum Thema wurde von Mario Cimoli, Giovanni Dosi und Joseph E. Stiglitz (2009) herausgegeben. Auch dieses Werk sieht Industriepolitik als ein wichtiges Instrument zur Beförderung wirtschaftlicher Entwicklung, obgleich die Herausgeber mit einer recht weit gefassten Definition arbeiten; so zählen sie auch Handelspolitik, Forschungs- und Technologiepolitik und die Anziehung von Direktinvestitionen zu den Instrumenten der Industriepolitik.
Innerhalb der Weltbank gibt es noch kein deutliches Plädoyer für Industriepolitik. Das Instrument als solches ist aber zumindest wieder diskussionswürdig und von strikter Ablehnung bis starker Befürwortung findet man das komplette Meinungsspektrum. Prominenter Pro-Industriepolitik-Vertreter ist Justin Yifu Lin (2012) , der bis 2012 noch Chefökonom und Vizepräsident der Weltbank war. In einem aktuellen Buch empfiehlt Lin aufstrebenden Ländern, sich an ihren komparativen Vorteilen zu orientieren. Bei der Wahl der Produktionstechnologien und der Produkte sollte sich Industriepolitik am Entwicklungspfad einer bereits voll entwickelten Volkswirtschaft mit vergleichbarer Faktorausstattung orientieren. Die voll entwickelten Volkswirtschaften sollen ihrerseits an der internationalen Technologiegrenze produzieren und diese weiterentwickeln. Aufgrund dessen sollte es Entwicklungsländern möglich sein, um ein Vielfaches schneller zu wachsen als bereits entwickelte Volkswirtschaften.
Das kontinuierliche Upgraden der industriellen Strukturen sowie die Verbesserung der Infrastruktur erfordern koordinierte Investitionen und die Kompensation von Externalitäten, so die Argumentation von Lin, beides kann von privaten Unternehmen allein aber nicht erbracht werden. Der Staat müsse deshalb eine aktive Rolle spielen, um den strukturellen Wandel zu befördern. Das Buch spiegelt deutlich Lins eigene Erfahrungen in China wider. Das wird insbesondere auch daran deutlich, dass er dem Problem schwacher Institutionen so gut wie keine Aufmerksamkeit schenkt. Shanta Devarajan (2012), Chefökonom der Weltbank für den MENA-Raum, sieht genau hier die Krux. Seiner Meinung nach wäre es besser, Regierungsversagen zu bekämpfen, damit würde man wohl mehr für den strukturellen Wandel tun als mit Industriepolitik im Kontext schlechter Regierungsführung, die dann wohl nur weitere Marktversagenstatbestände schafft. Insgesamt ist es wenig erstaunlich, dass Lins Ansatz keinen Konsens innerhalb der Weltbank findet; mit vielleicht einer Ausnahme. Innerhalb der Weltbank scheint man sich einig zu sein, dass Afrika substanzielle Investitionen in Infrastruktur benötigt.
Michael Grimm ist Professor für Development Economics an der Universität Passau.
michael.grimm@uni-passau.de
Literatur:
Amsden, A.A., 1994: Why isn’t the whole world experimenting with the East Asian model to develop? In World Development, Vol. 22: 627–633.
http://sites.utexas.edu/chinaecon/files/2015/06/Amsdem_Response-to-East-Asian-Miracle.pdf
Arbache, J. S., Go, D. S., und Page, J., 2008: Africa at a turning point? Growth, aid, and external shocks. Washington, D. C.: World Bank.
http://documents.worldbank.org/curated/en/2008/01/9484180/africa-turning-point-growth-aid-external-shocks
Cimoli, M., Dosi, G., und Stiglitz, J. E. (Hrg.), 2009: Industrial policy and development. The political economy of capabilities accumulation. Oxford: University Press.
Devarajan, S., 2012: In defense of industrial policy.
http://blogs.worldbank.org//africacan/in-defense-of-industrial-policy
Lin, J. L., 2012: The new structural economics. A framework for rethinking development and policy. Washington: World Bank.
https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/2232/663930PUB0EPI00nomics09780821389553.pdf?sequence=1
McMillan, M., und Harttgen, K., 2014: What is driving the ,African growth miracle‘? Tunis: African Development Bank.
http://www.afdb.org/fileadmin/uploads/afdb/Documents/Publications/Working_Paper_-_209_-_What_is_driving_the_African_Growth_Miracle.pdf
Rodrik, D., 2014: An African growth miracle? Princeton: Institute for Advanced Study.
https://www.sss.ias.edu/files/pdfs/Rodrik/Research/An_African_growth_miracle.pdf
Szirmai, A., Naudé, W., und Alcorta, L. (Hrg.), 2013: Pathways to industrialization in the twenty-first century. New challenges and emerging paradigms. Oxford: University Press.
World Bank, 1993: The East Asian Miracle: economic growth and public policy. Washington, D. C.
http://documents.worldbank.org/curated/en/1993/09/698870/east-asian-miracle-economic-growth-public-policy-vol-1-2-main-report