Europa

Vielversprechender Anfang

Deutschland heißt Flüchtlinge willkommen. Die Haltung ist richtig, es muss aber noch viel mehr geschehen. Europa braucht ein kohärentes Konzept.
Frankfurter Bürger begrüßen Flüchtlinge am Hauptbahnhof mit Proviantpaketen. Rumpenhorst/picture-alliance/dpa Frankfurter Bürger begrüßen Flüchtlinge am Hauptbahnhof mit Proviantpaketen.

Zivilgesellschaftliches Engagement hat Deutschland in diesem Sommer verändert. Seit Jahrzehnten gingen Politiker davon aus, dass die Bürger sich vor Flüchtlingen und anderen Migranten tendenziell fürchten. Deshalb begrenzten sie die Zuwanderung mit strikten Regeln. In der Tat zeigen auch jetzt Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, dass Rechtsextremisten Stimmung machen. Die breite Mehrheit der deutschen Gesellschaft empört sich aber über sie. Die meisten Deutschen erkennen die Not der Flüchtlinge und wollen, dass geholfen wird. In großer Zahl heißen sie Flüchtlinge demonstrativ willkommen.

Der gute Wille ist ansteckend. Die Bundesregierung will nun schnell und unbürokratisch helfen. Sie hat im September an einem einzigen Wochenende zehntausende Flüchtlinge, die in Ungarn festsaßen, einreisen lassen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich unmissverständlich zum Grundrecht auf Asyl bekannt und gesagt: „Wir schaffen das.“

Diese Haltung ist auch entwicklungspolitisch richtig. Europa kann nicht weltweit Menschenrechte predigen, wenn es selbst Asylsuchende fernhält. Um in muslimischen Ländern Herzen und Köpfe im Kampf gegen den Extremismus zu gewinnen, muss der Westen humanitäre Mindeststandards erfüllen. Ohnehin sind Migranten, die einmal Demokratie und Rechtsstaat in der Praxis erlebt haben, die besten Botschafter für Wandel in autoritär regierten Ländern.

Innerhalb der EU löst die neue deutsche Politik allerdings Irritationen aus. Die Bundesregierung hat spontan und einseitig das bei einem Gipfel in Dublin vereinbarte Prinzip außer Kraft gesetzt, dem zufolge Flüchtlinge dort Asyl beantragen müssen, wo sie die EU zuerst betreten. Diese Regel funktioniert in der Tat nicht, weil Flüchtlinge auf dem Land- und Seeweg nun mal nur nach Süd- und Osteuropa einreisen. Angesichts der humanitären Krise ist die deutsche Wende begründet. Sie widerspricht aber dennoch dem Grundsatz, dass in der EU vereinbarte Regeln gelten.

Jean-Claude Juncker, der Präsident der EU-Kommission, sieht die Dinge ähnlich wie die Bundesregierung. Er hat neue Regeln mit festen Quoten vorgeschlagen, damit alle Länder entsprechend ihrer Größe und Leistungskraft eine faire Zahl von Flüchtlingen aufnehmen. Der Ministerrat hat dieses Prinzip angenommen - aber nicht wie sonst üblich im Konsens, sondern gegen die Stimmen von vier osteuropäischen Mitgliedsländern. Victor Orbán, Ungarns Premierminister, warnt Deutschland nun vor „moralischem Imperialismus“. Ein EU-Sondergipfel fasste dann Beschlüsse, die die Außengrenzen dicht halten sollen.

Es gibt noch viele Ungereimtheiten. In Deutschland bezweifeln etwa die Kommunen und Länder, die die Flüchtlinge unterbringen müssen, dass die 6 Milliarden Euro, die für Flüchtlingshilfe aus dem Bundeshaushalt in Aussicht gestellt wurden, reichen werden. Der Bund hat darauf noch eine Milliarde nachgelegt. Ist das jetzt genug? Innerhalb der EU werden nach Junckers Plan nun 120 000 Menschen zusätzlich verteilt, in Deutschland allein werden aber in diesem Jahr 800 000 Asylsuchende erwartet. Unterdessen haben Mitgliedstaaten innerhalb der EU längst abgeschaffte Grenzkontrollen wieder eingeführt.

Juncker will die Türkei zu einem sicheren Herkunftsland erklären, dort eskaliert aber gerade die Gewalt zwischen Armee und kurdischen Aufständischen, die eigentlich den Westen im Kampf gegen die Terromiliz ISIS in Syrien unterstützen. Die EU ist bereit, für Flüchtlingslager außerhalb ihrer Grenzen zusätzliches Geld bereitstellen. Große Lager sind aber, wie die Erfahrung etwa mit den Taliban zeigt, Orte, an denen der Extremismus gedeiht.

Einige Politiker in der EU unterstützen unterdessen den russischen Vorschlag, sich im Kampf gegen ISIS in Syrien mit Baschar al-Assad zu verbünden. Sicher muss mit dessen Regime gesprochen werden. Der Diktator hat aber so viel Blut an seinen Händen, das Frieden nur dann möglich sein kann, wenn er kein wichtiges Amt mehr innehat. Aus Sicht der türkischen Regierung ist er ein größeres Problem als ISIS. Derweil will Paris den Luftkrieg der USA gegen ISIS in Syrien mit Aufklärungsflügen unterstützen, während London auch Bombenabwürfe ankündigt. Es ist aber klar, dass sich ohne Bodentruppen Stabilität nicht erzwingen lässt.

Europa braucht eine kohärente Politik. Deutschlands neue Willkommenskultur ist ein guter Start. Es muss aber noch viel mehr geschehen.

Aktualisiert am 25.9.2015

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