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Interview

Langfristige Risiken für die Nahrungssicherheit

Nur zwei Jahre nach der Ernährungskrise 2008, die in Entwick­lungsländern zu Hunger und Unruhen führte, ziehen die Getreidepreise erneut stark an. Geraten die Lebensmittelmärkte aus dem Gleichgewicht? Claire Schaffnit-Chatterjee von Deutsche Bank Research erklärt, wieso uns Nahrungsknappheit zukünftig noch häufiger treffen könnte – wenn wir nicht Produktion, Vertrieb und Konsum umgestalten.


[ Interview mit Claire Schaffnit-Chatterjee ]

Nach dem Ernteausfall in Russland verhängte die Regierung Exportsperren. Die Folge sind steigende Preise und eine drohende Ernährungskrise. Werden die Lebensmittelmärkte instabil?
Die Nahrungsmittelmärkte waren schon immer instabil, da sie vom Wetter abhängen. Bei der Analyse von Märkten muss man zwischen kurzfristigen und langfristigen Trends unterscheiden. Kurzfristige Getreideknappheit muss nicht unbedingt die langfristige Ernährungssicherheit beeinträchtigen. Der aktuelle Engpass in Russland ist auf Waldbrände und Dürre zurückzuführen. Das sind vorübergehende Phänomene, die der Weltmarkt vermutlich kompensieren kann, da es aktuell noch ausreichend Bestände gibt – auch wenn in Kanada schlechte Ernten erwartet werden und trotz der problematischen Situation in Bangladesch. Dank Rekordernten in den USA und möglicherweise auch in Australien ist weltweit gesehen keine extreme Getreideknappheit zu erwarten. Dennoch treffen die steigenden Lebensmittelpreise gerade die Ärmsten der Welt hart.

Wie sieht die Situation langfristig aus?
Die Lage ist angespannt. Extreme Wetterphänomene, wie die Ereignisse in Russland, sind aufgrund des Klimawandels in Zukunft häufiger zu erwarten. Dies beeinträchtigt die Nahrungsmittelversorgung – ebenso wie Wasserknappheit, Landschaftszerstörung oder die Nutzung von Böden zur Herstellung von Biodiesel. Derweil steigt die globale Nachfrage konstant an, da die Weltbevölkerung wächst und das Wirtschaftswachstum in den Entwick­lungsländern den Konsum steigert. Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage wird instabil und die Märkte unbeständiger. Das ist auf jeden Fall ein Grund zur Beunruhigung, den die Politik zur Kenntnis nehmen sollte.

Wenn das russische Problem nur kurzfristig und kompensierbar ist, wieso sind internationale Experten so beunruhigt über die Exportsperren?
Einerseits sind die Ausfuhrsperren verständlich, denn die Regierung möchte ihre Bevölkerung vor Weizenknappheit bewahren. Dennoch sind die Exportsperren kontraproduktiv, insbesondere auf lange Sicht. Sie lösen Stress auf den globalen Märkten aus, da Kaufverträge gebrochen werden. So entsteht eine Angebotsverknappung, die wiederum die Preise beeinflusst. Leiden werden darunter die armen Länder, die die Schwankungen des Weltmarktpreises nicht abfedern können. Offene Märkte dagegen geben langfristig gesehen Anreize, bei steigender Nachfrage auch das Angebot zu erhöhen.

Aber würde es nicht zu lange dauern, bis sich Angebot und Nachfrage angleichen?
Natürlich ist es eine Herausforderung, mehr zu produzieren – gerade angesichts zunehmender Verknappung. Um die Produktion zu steigern, braucht es Innovationen, Investitionen und Zeit.

Sie meinen, dass wir kein akutes Problem haben, sondern eher ein lang­fristiges. Aber auch heute schon leiden Menschen Hunger – ist die Lage nicht bereits jetzt problematisch?

Die Ursache für Hunger ist derzeit nicht zu wenig Nahrung, sondern dass nicht jeder an sie herankommt. Das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Märkte nicht ideal funktionieren. Handelsliberalisierung ermöglicht, regionale Engpässe zu kompensieren. Sie könnte somit auch ermöglichen, den Zugang zu Nahrung für alle zu sichern. Dieser Aspekt sollte bei Wirtschaftsverhandlungen hohe Priorität haben, besonders im Kontext der Welt­han­dels­organisation (WTO). Es gibt aber noch ein anderes Problem: Die meisten Kleinbauern sind von den Vertriebswegen der großen Einzelhandelsketten ausgeschlossen und haben somit keinen Zugang zum Weltmarkt. Wir brauchen also nicht nur ­of­fene Märkte, sondern zudem Vertriebswege, die alle Produzenten einbeziehen. Es entstehen immer mehr Partnerschaften zwischen globalen Akteuren und kleinen Bauern – zum Vorteil für beide Seiten. Kleinbauern erhalten besseren Zugang zu den Märkten und können von technischen und finanziellen Innovationen profitieren. Die Einzelhandelsriesen gewinnen regionales Know-how und sichern ihre Beschaffung.

Freihandel ist also der Schlüssel im Kampf gegen den Hunger?
Handelsliberalisierung ist ein sehr kom­plexes Thema. Ein offener Markt hat klare Vorteile gegenüber einem geschlossenen oder gesteuerten System. Den Nachteil von politischen Eingriffen in den Welthandel haben wir an den europäischen Exportsubventionen für Entwicklungsländer gesehen. Von der Europäischen Union (EU) gesponserte und dadurch billigere Waren wurden zur Konkurrenz für die Eigenproduktion in den Ländern. Aber auch ein vollständig offener Weltmarkt ist nicht risikofrei. Im Fall von Nahrungsknappheit und steigenden Preisen sind arme Länder stärker betroffen, während die Industrienationen zusätzliche Kosten leichter verkraften können. In jedem Fall braucht eine offene Wirtschaft Regulierungen, die in Krisenzeiten greifen. Die Politik muss Maßnahmen ausarbeiten für den Fall, dass ernste Probleme auftauchen.

Trägt Spekulation zur Nahrungs­preisinflation bei?
In den vergangenen Jahren hat die Spekulation auf Nahrungsmittel zugenommen, hauptsächlich weil die Anleger ihr Portfolio diversifizieren wollen. Die Debatte über die Konsequenzen ist rege. Einfach ausgedrückt geht es bei Spekulation darum, die künftigen Preise abzuschätzen – somit existiert Spekulation bereits seit dem Beginn aller landwirtschaftlichen Aktivitäten. Wenn Bauern ihre Saat säen, wissen sie nicht, welchen Preis sie mit der Ernte erzielen werden. Ein börsengehandelter Vertrag, wie ein Terminkontrakt, kann ihnen eine gewisse Sicherheit geben. Aus finanzieller Sicht spielen Rohstoffmärkte auch eine große Rolle bei der Ermittlung des Marktpreises und tragen so zur Liquidität auf dem Markt bei. Andererseits gibt es Extremfälle, bei denen exzessive Spekulationen die normale Wirkungsweise des Marktes stören können. Das kann schlimme Folgen für Bauern und Konsumenten haben und ist inakzeptabel.

Wie lässt sich exzessive Spekulation verhindern?
Es sollten Regeln eingeführt werden, die für mehr Transparenz sorgen und exzessivem Handel mit Nahrungsmitteln vorbeugen. Dann könnten die Mechanismen der Finanzmärkte richtig funktionieren, so dass sie Bauern und anderen Beteiligten den anerkannten Nutzen bringen. In den USA scheinen die Märkte bereits transparenter zu sein als in der EU.

Was kann und sollte getan werden, um künftiger Nahrungsverknappung vorzubeugen?
International verwaltete Lebensmittelreserven könnten helfen, die Märkte zu stabilisieren – womöglich eine Kombination aus realen und virtuellen Reserven, wie einige Leute sie vorschlagen. Die Weltbank plant außerdem, einen Nahrungsfonds einzurichten. Solche Fonds könnten verhindern, dass die Preise in die Höhe schießen. Beide Reserveformen aber sind schwer umzusetzen. Sie müssten von einer glaubwürdigen internationalen Organisation verwaltet werden.

Welche Maßnahmen könnten langfris­tig Nahrungssicherheit garantieren?
Für ein global nachhaltiges Ernährungssys­tem brauchen wir neue Konsum- und Produktionsformen. Wir vergessen leicht, dass beides notwendig ist. Auf der Produktionsseite sind vor allem genug Investitionen für Innovationen gefragt, besonders in Ent­wick­lungsländern. So können die Erträge erhöht und nachhaltigere Agrarpraktiken eingeführt werden. Letzteres ist sehr wichtig. Denn wenn die Erträge nur durch Ausbeutung der Böden gesteigert werden, richtet das langfristigen Schaden an. Beim Konsum ist zu beachten, dass wir sehr viel Nahrung verschwenden: auf dem Weg von der Produktion in die Haushalte, aber auch innerhalb der Haushalte. Wir sollten diese Verschwendung stoppen. Eine andere Möglichkeit ist, weniger Fleisch zu essen. Außerdem sollte die Nutzung von Biotreibstoffen überdacht werden – sie haben Vorteile, aber sie belegen auch Flächen, die für die Nahrungsproduktion genutzt werden könnten.

Die Fragen stellte Eva-Maria Verfürth.

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