Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Social Cash Transfers

Sozialhilfe ist kein Tabu mehr

Entwicklungshilfe geht häufig an den ärmsten Menschen vorbei, da ihnen das nötige Selbsthilfepotenzial fehlt. Ein Pilotprojekt im sambischen Kalomo zu regelmäßigen Zuschüssen zum Lebensunterhalt für die am stärksten benachteiligten Gruppen hat das Sozialhilfe-Tabu gebrochen. Mittlerweile gibt es in fast allen afrikanischen Ländern Cash-Transfer-Programme.
Typische Zielgruppe des Kalomo-Projekts: Großmutter mit drei Enkeln, deren Eltern an AIDS gestorben sind. Schubert Typische Zielgruppe des Kalomo-Projekts: Großmutter mit drei Enkeln, deren Eltern an AIDS gestorben sind.

„Hilfe zur Selbsthilfe“ ist das Credo der Entwicklungshilfe. Die Ärmsten der Armen haben jedoch häufig kein oder wenig Selbsthilfepotenzial: Sie sind zu krank, zu alt oder zu jung, um produktive Arbeit leisten zu können. Diese Erkenntnis wurde lange Zeit ignoriert. Zwar ist Armutsminderung das mittelbare oder unmittelbare Ziel der meisten Entwicklungshilfeprojekte. Serienevaluierungen zeigen jedoch, dass die am stärksten benachteiligten Menschen nicht von den Vorhaben profitierten.

Das traditionelle Instrumentarium der Entwicklungspolitik – wie die Vergabe von Kleinkrediten, die Förderung des informellen Sektors oder von Beschäftigungsprogrammen – erreicht viele der ärmsten Haushalte demnach nicht. Technisch gesehen besteht die Hauptursache für dieses Manko in fehlender Zielgruppendifferenzierung. Armut ist heterogen, aber die meisten Projekte zielen auf „die Armen“, als seien sie eine homogene Gruppe. Dabei folgen sie der Weltbankdefinition, wonach derzeit Menschen als arm gelten, deren Einkommen unter $ 1,90 pro Tag liegt. Unterhalb dieser Grenze wird nicht differenziert. Dass Menschen, deren Einkommen bei $ 0,50 liegt und die chronisch unterernährt sind, ganz andere Probleme haben als diejenigen, die nur knapp unter der $ 1,90-Grenze liegen, wird nicht berücksichtigt.

Differenziert werden muss zusätzlich nach den wichtigsten Ursachen für Armut und Hunger. Sie liegen oft in der Haushaltsstruktur. Ein Haushalt, der arm oder sehr arm ist, aber über arbeitsfähige Mitglieder verfügt, bietet andere Voraussetzungen zur Armutsüberwindung als Haushalte ohne Arbeitskräfte.

Differenziertes Armutsprofil

2003 wurde im Rahmen eines von Deutschland geförderten Pilotvorhabens im Distrikt Kalomo in Sambia der Versuch unternommen, ein Armutsprofil zu erstellen, das die oben beschriebenen Kriterien berücksichtigt. Die dazu erstellte Grafik (siehe unten) differenziert die etwa eine Million Haushalte des Landes, die unter Armut und Hunger leiden (insgesamt 50 Prozent aller Haushalte), nach den Kriterien „mäßige Armut“ (moderate poverty) und „kritische Armut“ (critical poverty).

Die Grafik unterscheidet weiter, ob die Haushalte ausreichend Arbeitskräfte und damit Selbsthilfepotenzial haben (low dependency ratio), oder ob sie über keine oder zu wenig Arbeitskräfte verfügen, etwa weil die Haushaltsmitglieder zu jung oder zu alt, krank oder behindert sind, und der Haushalt daher Hilfe von außen benötigt (high dependency ratio).

Die 300 000 armen Haushalte im Feld A sind in einer relativ günstigsten Situation. Ihre Armut ist real und schmerzlich, aber nicht lebensbedrohlich. Gleichzeitig verfügen sie über Arbeitskraftreserven, die genutzt werden können, wenn sie Zugang zu Kleinkrediten, Beratung oder wenigstens zu Beschäftigung erhalten, etwa als Landarbeiter oder im Rahmen öffentlicher Beschäftigungsprogramme.

Die 200 000 Haushalte im Feld D sind in der ungünstigsten Lage. Sie leiden unter lebensbedrohlichem Hunger und haben keine Arbeitskraftreserven. Für Förderprogramme, die auf Selbsthilfe ausgerichtet sind, bieten sie keine Ansatzpunkte. Sie sind Sozialfälle: Haushalte, die zur Überlebenssicherung regelmäßige Zuschüsse zum Lebensunterhalt benötigen. Dafür hat sich in der Entwicklungshilfe der Begriff „Social Cash Transfers“ durchgesetzt.

Basierend auf diesen Daten, wurde in Kalomo ein Pilotprojekt durchgeführt, das alle kritisch armen Haushalte, die keine Arbeitskraftreserven hatten, mit regelmäßigen Zuschüssen zum Lebensunterhalt versorgen sollte. Ziel war es, die extreme Armut und den Hunger der Menschen in diesen Haushalten zu reduzieren, die Gesundheit zu verbessern und den Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen. Gleichzeitig sollten Erkenntnisse über die Durchführbarkeit, die Kosten und die Wirkungen von Social Cash Transfers für Haushalte der Kategorie D gewonnen werden.

Nach dreijähriger Laufzeit zeigte das Pilotvorhaben, dass die Distriktstrukturen des Sozialministeriums in Zusammenarbeit mit Dorfkomitees in der Lage sind, ein solches Sozialhilfeprogramm zu realisieren. Die jährlichen Kosten lagen bei etwa $ 100 pro Haushalt. Die Empfängerhaushalte gaben die zusätzlichen Mittel konsequent für Ernährung und Gesundheit der Haushaltsmitglieder aus, tätigten einkommensschaffende Kleinstinvestitionen und schickten die Kinder zur Schule. Sie investierten in physisches, menschliches und soziales Kapital. Gleichzeitig bewirkte die zusätzliche Kaufkraft positive Sekundäreffekte. Die gestiegene Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen führte zu Produktions- und Vermarktungsanreizen und stärkte die lokalen Wirtschaftskreisläufe.

Auf der Basis dieser Daten ließ sich abschätzen, dass eine flächendeckende Sozialhilfe für die 200 000 Haushalte der Kategorie D (die bedürftigsten zehn Prozent aller Haushalte in Sambia) jährlich $ 20 Millionen kosten würde. Das waren im Jahr 2006 0,5 Prozent des Bruttosozialprodukts oder fünf Prozent der nach Sambia fließenden Entwicklungshilfegelder aller Geber. Mit diesen finanziellen Mitteln würde, die Ernährung und die wichtigsten anderen Grundbedürfnisse Hunderttausender Menschen signifikant verbessert und der Schulbesuch der Kinder gesichert. Sechzig Prozent der Menschen, die in Kategorie-D-Haushalten leben, sind Kinder.

Die Ergebnisse wurden 2006 auf der Livingstone Conference vorgestellt, die die AU eigens zur Auswertung des Kalomo-Projekts einberufen hatte. 130 Führungskräfte aus 13 afrikanischen Ländern sowie Mitarbeiter internationaler Organisationen informierten sich über den Ansatz. Sie besuchten Dörfer in Kalomo, wo sie mit Mitarbeitern des sambischen Sozialministeriums, mit Dorfkomitees und mit den Sozialhilfeempfängern zusammentrafen und sich aus erster Hand informieren konnten.

Die Ergebnisse der Feldbesuche wurden im weiteren Verlauf der Konferenz ausgewertet und mündeten schließlich in den Livingstone Call for Action. Diese Resolution fordert alle afrikanischen Regierungen auf, die soziale Sicherung in ihren Ländern durch Cash-Transfer-Programme und andere Maßnahmen nachhaltig zu verbessern. In der Folge führte eine zunehmende Zahl von Ländern derartige Programme ein.

Inzwischen – zehn Jahre nach dem Startschuss von Kalomo – gibt es in fast allen afrikanischen Ländern Cash-Transfer-Programme. Das sambische Programm  wurde in den vergangenen Jahren nach und nach ausgeweitet. Nach Angaben der Regierung  kam es 2014 rund 150 000 Haushalten zugute und sollte 2016 20 Prozent der Menschen erreichen. Sozialhilfe in Entwicklungsländern ist kein Tabu mehr. Auch in den Durchführungsorganisationen hat sich soziale Sicherung einschließlich der Förderung von Sozialhilfeprogrammen als legitimes Geschäftsfeld etabliert. Kalomo hat dazu einen signifikanten Beitrag geleistet.

Bernd Schubert ist ehemaliger Leiter des Seminars für Ländliche Entwicklung an der Humboldt Universität zu Berlin, hat von 2003 bis 2006 als GIZ-Kurzzeit-
experte mehrfach an der Konzipierung und Durchführung des Kalomo Social Cash Transfer Pilot Programms mitgearbeitet.
schubert@teamconsult.org

Literatur
Schubert, B., 2005: Social cash transfers – reaching the poorest. A contribution to the international debate based on experience in Zambia. GTZ, Eschborn.
Schubert, B., und Beales, S., 2006: Social transfers for Africa. Intergovernmental regional conference report. Livingstone, Zambia, 20-23 March 2006. Helpage International, London.
Cirillo, C., und Tebaldi, R., 2016: Social protection in Africa. Inventory of non-contributory programmes. IPC/UNICEF, New York.