China

Jenseits der klassischen Zensur

Die chinesische Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Eine herausragende Rolle in der innerchinesischen Diskussion spielt das Internet. Doch die Re­gie­rung unterdrückt viele Themen, die die Bürger beschäftigen. Der Westen setze dem zu wenig entgegen, meinen China-Experten von Reporter ohne Grenzen.

„Jiefang“ nennen die chinesischen Blogger das Vorgehen der Regierungsbehörden. Früher bedeutete „Jiefang“, dass Menschen, die Petitionen einreichen wollten, abgefangen wurden, bevor sie die Beschwerdestelle erreicht hatten. Heute steht es für die Verhaftung regimekritischer Blogger. Sie werden „abgefangen“, sodass sie ihre Meinung nicht über das Internet verbreiten können. Doch das ist nur eine Art der Zensur in China. Der Publizist Shi Ming, der seit mehr als 20 Jahren in Deutschland lebt, spricht von zwei Ebenen. Die erste ist die „informative Ebene“. Dazu gehört neben Jiefang das Blockieren ganzer Seiten im Netz und das Sperren einzelner Inhalte. Online-Angebote werden nach Schlagworten durchsucht und unliebsame Inhalte entfernt. Komplette Themen, wie etwa das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing vor 20 Jahren, werden so unterdrückt.

Doch die chinesische Zensur hat noch ein zweites, subtileres Gewand. Wie Shi erläutert, bezahlt die Regierung seit etwa drei bis vier Jahren Personen dafür, ihre Sicht in Internetforen zu tragen. Stimmung würde so geschürt und Themen definiert. Shi spricht von einem „Kampf um die Diskurshoheit“, der den Staat viel Geld koste.

Als Beispiel für ein unterdrücktes Thema nennt Shi die Frankfurter Buchmesse. Über sie sei anfangs online viel diskutiert worden, doch dann seien alle Einträge dazu verschwunden. „Heute Morgen habe ich dazu keinen einzigen mehr gefunden. Es ist, als gäbe es die Messe nicht“, berichtete Shi auf einer Pressekonferenz von Reporter ohne Grenzen (ROG) anlässlich der Buchmesse, deren Ehrengast China diesmal war. Die Messeleitung hatte zwei kritische Schriftsteller, die sie zunächst eingeladen hatte, auf Druck der chinesischen Delegation wieder ausgeladen.

Um die Zensur zu umgehen, lassen sich chinesische Blogger einiges einfallen. „Irgendwann einmal tauchte auf einmal das Datum 35. Mai im Internet auf“, berichtet Shi. Das Datum gibt es nicht, aber wer durchzählt, kommt auf den 4. Juni – den Tag des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahr 1989. Solche Codes gebe es aber tausendfach, sagt Shi.

Eine anderer Bloggertrick sind sogenannte „Kantenbälle“. So heißen Texte, in denen Autoren über etwas schreiben, dass scheinbar nichts mit China zu tun hat. Durch einen einzigen Satz am Ende wird das Ganze dann in den gesellschaftlichen Zusammenhang gerückt. Zwar kommen in solchen Texten keine zensierten Worte vor, aber dennoch hat die chinesische Zensurbehörde Wege gefunden, sie aus dem Netz zu nehmen. Sie registriert die Frequenz, in der eine Seite angeklickt wird, und setzt sie in Relation zu den Kommentaren zum Text. So kann sie erkennen, welche online-Angebote der Blogger-Community wichtig sind.

Die Zahl der Internetnutzer wächst – nicht zuletzt in Folge zunehmenden Wohlstands und besserer Infrastruktur – schnell, und die Restriktionen werden schärfer. ROG schätzt, dass etwa 40 000 Mitarbeiter von Internet-Kontrollagenturen und staatlichen Behörden online-Informationen überwachen. Obendrein investiert Chinas Regierung in Propaganda, um das Bild des Landes jenseits der eigenen Grenzen zu verschönen.

Zur Zeit sitzen laut ROG 30 Journalisten und 57 Blogger in China in Haft – manche schon seit Jahren. Auf der aktuellen Weltrangliste zur Lage der Pressefreiheit nimmt China ganz unten Platz 168 von 175 Staaten ein. Seit den Unruhen in der Provinz Xinjiang im Juli ist das Internet dort sogar vollständig gesperrt. Die chinesische Zivilgesellschaft brauche Hilfe von außen, meint ROG und denkt dabei nicht an Demokratieunterricht. Die Menschen wüssten, worum es gehe, hätten aber keine Chance, Demokratie zu leben. „Wenn Sie wirklich Interesse an der Demokratisierung Chinas haben – beteiligen Sie sich an der innerchinesischen Debatte!“, appelliert Shi an den Westen. Es komme darauf an, die zivilgesellschaftlichen Diskussionen international zu vernetzen. Die Sprache, das weiß er selbst, ist allerdings ein großes Hindernis.

Derzeit geschieht indessen das Gegenteil von dem, was ROG propagiert. Anstatt sich aktiv in der Volksrepublik einzumischen, geben westliche Medienanbieter nach. Google etwa filtert Suchanfragen in China nach den Kriterien der Kommunistischen Partei. Selbst Sender wie die britische BBC oder die Voice of America (VoA) schränkten ihre chinesischen Programme ein, bedauert Shi. Auch der Leiter des Büros des deutschen Fernsehsenders ZDF in Beijing meint, der Westen unterwerfe sich in China zunehmend der Selbstzensur. (cir)