Wirtschafts- und Sozialpolitik

Keine Frage der Mode

Zentralamerika ist eine der Weltregionen, in denen die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs - Millennium Development Goals) nicht erreicht werden. Im Interview mit Hans Dembowski betont Entwicklungsgutachterin Karin Slowing Umaña, dass die bisherigen Ziele nicht aufgegeben werden dürfen – und dass es sinnvoll wäre, aus den gesammelten Erfahrungen Lehren zu ziehen.
“The MDGs helped to focus attention on basic things such as health care”: rural patients in Guatemalan clinic. Lineair “The MDGs helped to focus attention on basic things such as health care”: rural patients in Guatemalan clinic.

Was haben die MDGs in Zentralamerika bewirkt?
Sie waren hilfreich. Als sie beschlossen wurden, waren in unserer Region die Bürgerkriege gerade vorbei, und die MDGs haben dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit auf grundlegende Dinge wie Wasser, Nahrung, Gesundheit und Bildung zu lenken. Die globale Agenda war aber nicht einflussreich genug, denn zentralamerikanische Länder werden viele der Ziele nicht erreichen.

Es wäre also mehr internationaler Druck nötig gewesen?
Nein, das meine ich nicht. Mir geht es im Gegenteil darum, dass die Innenpolitik entscheidend ist. Druck von internationalen Institutionen und Gebern kann nur in gewissem Maß helfen. Es gibt Kräfte in Zentralamerika, die den Fortschritt bremsen.

Weshalb sollte eine Regierung ihr Land rückständig halten wollen?
Das ist eine Übertreibung. Die Regierungen wollen keine Rückständigkeit, und sie hoffen, dass sich ihre Entwicklungsindikatoren allmählich verbessern. Das Problem ist, dass sie nicht bereit sind, alles zu tun, um das auch zu erreichen. Sie wollen Entwicklung ohne Veränderung. Das ist auch nicht überall gleich. In El Salvador ist die Politik pro-aktiv geworden. Nach dem Krieg hatten sie dort erst 15 Jahre lang eine konservative Regierung, aber dann wurde eine eher linksgerichtete Regierung gewählt, die kürzlich bei Neuwahlen im Amt bestätigt wurde. In El Salvador kreist das politisch System jetzt darum, wie das Gemeinwohl zu erreichen ist. Honduras ist das andere Extrem. Der Staatsstreich 2009 war ein schwerer Rückschlag. Auch in Guatemala ist die Politik relativ dysfunktional. Wir machen kaum Fortschritt, vielleicht geht es auch schon rückwärts. Beim Vergleich zentralamerikanischer Länder wird jedenfalls klar, dass es auf die nationale Politik ankommt.

Da die MDGs nationale Regierungen auf ihre Verantwortung hingewiesen haben, wären neue Ziele vermutlich ähnlich nützlich.
So einfach ist das nicht. Zunächst ist festzuhalten, dass Zentralamerika die bisherigen Ziele nicht erreicht hat – und das sollten wir tun, bevor wir uns neue setzen. Grundsätzlich finde ich aber, dass die internationale Staatengemeinschaft sich mehr Gedanken um politische Strategien als um Ziele machen sollte. Es ist kaum ernsthaft evaluiert worden, warum manche Länder die MDGs erreichen, aber andere das nicht tun. Die UN konzentrieren sich auf die Erfolgsgeschichten, prüfen aber kaum, warum sie wo zustande gekommen sind, und was anderswo schief gelaufen ist.

Wie würden Sie verfahren?
Wir brauchen zum Beispiel eine tiefer gehende Diskussion über die Kultur der Ungleichheit. Es überrascht mich, dass alle jetzt Thomas Pikettys Bestseller „Capital in the 21st century“ aufregend finden. Seine Kernbotschaft ist, dass Ungleichheit problematisch ist. Das sagen wir in Lateinamerika seit vielen Jahren. Das Entwicklungsprogramm der UN (UNDP) etwa hat das mehrfach herausgestellt. In Lateinamerika hat Ungleichheit vielfach nicht nur Entwicklung behindert, sondern sogar das Wirtschaftswachstum beeinträchtigt. In der multilateralen Politik war das aber jahrelang kein Thema.

Aber das ändert sich doch jetzt?
Es mag sein, dass die Erwähnung von Ungleichheit zunehmend zur Standardrhetorik gehört, aber das spiegelt sich noch zu wenig in der konkreten Politik wider. Wir müssen gründlich darüber diskutieren, welche Alternativen es in der Wirtschaftspolitik gibt, welche Rolle der Staat spielt, wie stark er sein soll und so weiter. Das passiert aber kaum. Außerdem sollten wir uns einzelne Weltgegenden genauer anschauen. Die Fortschritte bei den MDGs beeindrucken weder in Zentralamerika noch der Karibik – und auch nicht in Subsahara-Afrika. Diese Regionen brauchen keine neuen Ziele, nur weil die alten schon so lange bestehen. Das ist doch keine Frage der Mode.

Die Zielmarke für die MDGs ist aber 2015, also brauchen die UN etwas, das darauf folgt.
Klar, die UN brauchen eine neue Agenda, mit frischer Luft und neuen Anreizen für Geber, Mittel bereitzustellen. Daran ist nichts auszusetzen. Aber das reicht nicht. Wir haben noch nicht genug getan, um Lehren aus den MDG-Erfahrungen zu ziehen. Wir müssen prüfen, was funktioniert hat und was nicht. Und wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass die neue Agenda die alte verdrängt. Ziele die 2015 nicht erreicht werden, müssen so bald wie möglich danach erreicht werden.

Das MDG 8 ist im Kern eine entwicklungsfreundliche multilaterale Ordnung. Hier gab es die geringsten Fortschritte. Haben die Geber genug getan?
Die letzte große multilaterale Konferenz, an der ich selbst teilgenommen habe, war das High Level Forum on Aid Effectiveness in Busan Ende 2011. Damals fiel mir auf, dass das Hauptinteresse der Geber nicht unbedingt war, die Entwicklungspolitik effektiver zu machen, sondern vor allem mehr Partner zu finden, die einen Teil der Last übernehmen – vor allem die großen Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien, aber auch die Privatwirtschaft. Mit ähnlicher Intention forderten sie auch, dass Entwicklungsländer mehr Staatseinnahmen im Inland generieren müssen. Ungleichheit innerhalb von und zwischen Ländern betonten sie dagegen weniger. Es ist aber wichtig, dass begriffen wird, dass wir von der internationalen Gemeinschaft nicht nur Geld wollen. Unsere Länder brauchen die politische Unterstützung, die Präsenz und das Engagement der Geber, um sich den Menschen und Familien zuzuwenden, die ganz auf sich selbst gestellt sind. In dem Maße, in dem Geber sich zu drücken versuchen, statuieren sie ein schlechtes Exempel. Und die ständige Betonung der Bedeutung der Privatwirtschaft wirkt auch immer weniger überzeugend.

Ich finde die Diskussion über die Privatwirtschaft sehr wichtig, wenn auch zweischneidig. Zivilgesellschaftliche Akteure und globalisierungskritische Aktivisten sehen das immer nur als Durchsetzung der Interessen multilateraler Konzerne. Es gibt aber eine andere, höchst relevante Dimension. In vielen Entwicklungsländern rackern Massen von Menschen im informellen Sektor, was bedeutet, dass sie keine Rechte haben und zur Armut verdammt bleiben. Nötig ist deshalb eine Wirtschaftspolitik, die es informellen Betrieben erlaubt, zu regulären Unternehmen heranzuwachsen. Sonst wird es nie genug gute Arbeitsplätze geben – und Arbeits- wie Steuerrecht bleiben zahnlos.
Das stimmt. Arbeitslosigkeit ist ein riesiges Problem, und die Art von Privatsektorentwicklung, die Sie im Sinne haben, ist in der Tat unverzichtbar. Andererseits gibt es aber große Probleme, in die Privatunternehmen und Multis verstrickt sind. In Guatemala gilt das beispielsweise für den Bergbau. Riesige Unternehmen dieser Branche interessieren sich weder für das Wohlergehen der Menschen noch die ökologische Nachhaltigkeit. Land Grabbing, bei dem arme Menschen von dem Land vertrieben werden, von dem sie seit langer Zeit leben, kommt in vielen Staaten vor. Ich habe den Eindruck, dass die internationale Debatte immer noch vor allem darum kreist, Wohlstand und Wachstum zu steigern. Wenn die Weltführer wirklich globale Probleme angehen wollen, können sie das ja in der neuen Agenda deutlich machen – beispielsweise durch Ziele zur Besteuerung von transnationalen Transaktionen und zur Eindämmung illegitimer Finanzströme. Ich bin diesbezüglich nicht sehr optimistisch – aber es ist vielleicht ein gutes Zeichen, dass zumindest die OECD zu diesen Themen seit einiger Zeit interessante Dokumente veröffentlicht.

Karin Slowing Umaña ist eine ehemalige Planungsministerin Guatemalas und berät derzeit die Regierung von Honduras.
karin.slowing@gmail.com