Kommentar
Die Wurzeln von Kenias Krise
[ Von Mildred Ngesa ]
Kenia ging am 27. Dezember zur Wahl, doch die Ergebnisse wurden wahrscheinlich gefälscht. Das hat mittlerweile der Vorsitzende der staatlichen Wahlkommission bestätigt, ebenso wie internationale und heimische Wahlbeobachter, einschließlich des Teams aus der EU. Dem amtierenden Präsidenten Mwai Kibaki war von vornherein eine zweite Amtszeit sicher – wovon die Wähler nichts wussten. Ohne Zweifel haben die Autoritäten die Explosivität der Lage unterschätzt. Nun erlebt Kenia Kampf, Blutvergiessen und Angst.
Es war klar, dass es irgendwann eine Explosion geben würde. Dass sie so rasch kam, ist schrecklich. Das demokratische Kenia sollte doch wie Phönix aus der Asche eines von Bürgerkriegen, korrupten Regierungen und nicht endenden Diktaturen geplagten Afrikas emporsteigen.
Für dieses Land sah vor dem 27. Dezember alles gut aus. Die Wirtschaft boomte, die Börse auch. Die Demokratie sollte Wahrheit, Gerechtigkeit, Transparenz und Verantwortung zeitigen. Nun sieht sie aus wie zerschlagenes Porzellan auf den Steinen von Machtgier und ethnischen Spannungen.
Der Traum ist ausgeträumt. 600 Kenianer starben bis Mitte Januar in einer beispiellosen Gewaltorgie, die den Wahlen folgte. Mehr als 250 000 wurden vertrieben, Flüchtlinge im eigenen Land. Die internationalen Medien sprechen von ethnischer Säuberung und Stammesfehde zwischen den Luo und den Kikuyu. Aber die Dinge sind vielschichtig, die Saat der Gewalt wurde vor langer Zeit gesetzt.
In „A British Gulag“ schildert die Historikerin Caroline Elkins, wie das Kolonialsystem von „Teile und Herrsche“ funktionierte. Es schuf Hass und Tribalismus, sähte Zwietracht wie Misstrauen und lenkte von den gemeinsamen Interessen der Bevölkerung ab.
1963 machte sich Kenia von der britischen Kolonialmacht unabhängig. Damals hätte man sich mit den Ursachen der Krankheit befassen müssen, unter der das Land leidet. Stattdessen wuchsen die kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Gräben. Es war die koloniale Macht, die Luos anfangs gegen Kikuyus aufwiegelte; und die Stammesstreitigkeiten wurden nie beigelegt. Die Folgen wurden nach dem 27. Dezember sichtbar – vier Jahrzehnte nachdem die Briten Kenia verließen.
In Kenia gibt es mehr als zwei Stämme. Das Land mit einer Bevölkerung von 34 Millionen Menschen besteht aus 43 Stämmen. Eine Handvoll davon – Kikuyu, Luos, Luhyias, Kambas, Kalenjins und einige Küstenstämme – machen den Großteil der Bevölkerung aus. Und sie leiden unter all den Problemen, die Subsahara-Afrika plagen: Armut, HIV/Aids und bedrohte Sicherheit. 1998 und 2002 gab es verheerende Terroranschläge. Flüchtlinge kamen aus Somalia, Sudan und Ruanda.
Zugleich wächst die Kluft zwischen arm und reich. Die Arbeitslosigkeit unter den städtischen Mittellosen steigt, während ein Grüppchen wohlhabender Leute immer reicher wird – ohne Zweifel dank Beziehungen.
Demokratie in Kenia ist noch jung. In den späten 80er Jahren stellten Oppositionelle erstmals die eiserne Einparteien-Herrschaft des damaligen Präsidenten Daniel arap Moi in Frage. Es gab Prügel, willkürliche Festnahmen und Haft. Erst 1992 wurde das Mehrparteiensystem eingeführt. Von da an wurde der Wunsch nach besserer Amtsführung beharrlich lauter. Kibakis Wahlsieg im Jahr 2002 empfanden viele wie eine zweite Befreiung. Heute sehen wir, dass diese Hoffnung trog. Probleme, die zu Beginn der Unabhängigkeit hätten gelöst werden müssen, sind Grund der ausser Kontrolle geratenen Lage.
Die plötzliche Gewalt zeigt, dass viele Menschen sich übergangen fühlen. Das Land der Ahnen wird ihnen verweigert, ein traditionelles Leben auch. Zugleich finden sie keine neuen Chancen und Einkommensquellen. Zu viele haben das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben. Und die Spannung entlädt sich entlang von Stammesgrenzen. Es sind die Armen Kenias, die am meisten unter Tod und Zerstörung leiden – und sie sind es auch, die sich am leichtesten zu Gewalt verleiten lassen.
Was in Kenia geschieht, wirft Fragen auf. Wenn Demokratie Afrikas Probleme lösen soll, müssen historische, sozio-politische, kulturelle und ökonomische Defizite überwunden werden. Solange das nicht geschieht, bleibt Demokratie mittels Wahlen Utopie. Versäumnisse der Vergangenheit, soziales Unrecht und schlechte Staatsführung müssen korrigiert werden, damit tiefe Wunden heilen können.