Ernährungssicherheit
Das Drama der weltweiten Überfischung
Von Francisco J. Marí
Die internationale Überfischung der Meere ist ein moralisches Problem. Die Welternährungsorganisation (FAO) warnt, dass besonders die Bestände vor den Küsten von Entwicklungsländern schnell zurückgehen (siehe Kasten auf Seite 424) – also ausgerechnet dort, wo Hunger am größten ist.
Fischfarmen haben zwar geholfen, die weltweite Nachfrage zu bedienen. Derzeit liegt sie bei durchschnittlich 18,8 Kilo Fisch pro Kopf und Jahr und wächst pro Jahr um 4,2 Prozent. Die rasch wachsende Fischzucht durch Aquakultur habe den Druck auf überfischte Lebensräume aber nicht vermindert, schreibt die FAO. Zwar kämen bereits 42 Prozent der weltweit gekauften Speisefische aus Aquakulturen. Ihnen steht aber eine noch schneller wachsende Weltbevölkerung gegenüber, die jedes Jahr mehr Fisch verlangt.
In Europa steigt der Fischverbrauch. Wer als Käufer in Deutschland wegen Überfischung ein schlechtes Gewissen hat, wird durch Informationskampagnen über nicht bedrohte Fischarten und Herkunftsbezeichnungen auf der Verpackung beruhigt. Deutsche Verbraucher decken nur fünf Prozent ihres Eiweißbedarfes durch Fisch. Doch der Trend geht wie in vielen Industrieländern nach oben. Schnellrestaurants und Sushi Bars setzen ebenfalls immer öfter Fisch auf die Karte. Westliche Gesundheitsexperten raten ihren Landsleuten sogar, zweimal pro Woche Fisch zu essen. Folgte die gesamte Weltbevölkerung diesem Ratschlag, müsste sich das weltweite Fischaufkommen verdoppeln.
Eigentlich wäre mehr Fisch auf den Tellern der Industrieländern ernährungsphysiologisch gar nicht nötig: Mitteleuropäer essen im Schnitt sowieso zu viel Fleisch und bräuchten nicht zusätzlich noch gesunde Fischproteine. Sie können es sich aber zum Großteil leisten – im Gegensatz zu immer weniger Verbrauchern armer Länder. Nahrungsmittelindustrie, Handel und Verbraucher in Industrieländern bewegt die weltweite Überfischung aber nur insofern, als die Fischpreise steigen.
Mehr als eine Proteinquelle
In vielen Entwicklungsländern ist Fisch kein Luxus, sondern eines der Grundnahrungsmittel. Frischer Fisch enthält 18 bis 20 Prozent Protein, alle acht essentiellen Aminosäuren und wichtige Vitamine. Für 2,6 Milliarden Menschen deckt Fisch mindestens 20 Prozent des tierischen Proteinbedarfs. Für manche Küstenbewohner Asiens und Afrikas, zum Beispiel auf den Philippinen und Indonesien, im Senegal oder in Ghana, ist Fisch sogar die Basis ihrer lebenswichtigen Eiweißzufuhr.
In zwei weiteren Hinsichten ist Fischerei für Entwicklungsländer wichtig: erstens als Einkommensquelle für Fischer und ihr wirtschaftliches Umfeld, zweitens als Chance zur regionalen Wertschöpfung. Gäbe es keine ausländischen Industrieflotten, die heimischen Konkurrenten Fischbestände wegfangen, um lukrative internationale Märkte zu bedienen, könnte diese Wertschöpfung viel größer sein.
In Afrika sinkt der Fischkonsum zurzeit. Steigende Weltmarktpreise bedeuten, dass arme Verbraucher nicht mehr zum Zuge kommen – und südlich der Sahara ist die Armut besonders virulent.
In Asien steigt der Verbrauch hingegen. Besonders stark wächst der Fischkonsum in China, wo sich angesichts wachsenden Wohlstands immer mehr Menschen teurere Lebensmittel leisten können. Angesichts der wachsenden Nachfrage – und überfischter natürlicher Bestände – setzen viele Unternehmen in Asien auf Fischzucht. Das nützt nicht nur dem Export, sondern auch lokalen Verbrauchern – aber es reicht nicht, um die Überfischung zu stoppen.
Verlierer sind die ärmsten Länder in Afrika. Der Rückgang von Wildfisch trifft ihre Bewohner besonders hart: Um Menschen mit Fleisch zu versorgen, hätte in der Vergangenheit mehr Geld in kommerzielle Tierhaltung gesteckt werden müssen. Sie war ein Stiefkind in Agrarprogrammen afrikanischer Regierungen und internationaler Geber. Die Folge ist, dass billiges Fleisch aus Industrie- und Schwellenländern heute viele afrikanischen Kleinbauern aus dem Markt drängt.
Essen der Armen wird Fischfutter
Moralische Fragen wirft auch die Verwendung von Fischmehl für Zuchtfarmen auf: Fischmehl ist das billigste aller proteinhaltigen Futtermittel. Immer mehr Heringe, Makrelen und Anchoven, die in Entwicklungsländern ein erschwingliches Essen sind, landen als Fischöl und Fischmehl in Aquakulturen. Gleichzeitig gehen wertvolle Edelfischarten wie Barsche, Hechte, Seezungen und Thunfisch in den Export oder werden für städtische Mittel- und Oberschichten zubereitet. Fischfutter konkurriert mit Billigfisch für die Armen.
Um der Nachfrage nach Fischmehl in reichen Städten und Industrieländern nachzukommen, jagen große Trawler nach den fettreichen Fischarten. Das geschah in den vergangenen drei Jahren im Senegal: Dort verscherbelte die inzwischen abgewählte Regierung den ganzen Fang einer Saison von 40 000 Tonnen zu einem Billigpreis von 35 Dollar pro Tonne an 20 russische und baltische Trawler, die daraus Fischmehl produzierten.
Der Preis dieser kurzfristigen Profitorientierung ist nicht nur ernährungspolitisch hoch. Sie schadet auch der gewerblichen Kleinfischerei. Diese beschäftigt über 100 Millionen Menschen direkt plus weitere 400 Millionen im Handel und in der Fischverarbeitung. Im Gegensatz zu „handwerklichen“ Methoden zielt industriell betriebener Fang vor allem auf lukrative Weltmärkte. Die großen Schiffe lassen ihren Fang oft nicht einmal in den Küstenländern blicken, sondern bringen ihn direkt zur Verarbeitung ins reiche Ausland.
Handwerkliche Fischerei bietet wirklich die Chance, Menschen nachhaltig mit Fisch zu ernähren. Fangtechniken, Bootsgrößen und die Anzahl der Arbeitsplätze unterscheiden sich sehr von denen der industriellen Fischerei, die zunehmend selbst in Zonen vordringt, die eigentlich Kleinfischern vorbehalten sind.
Illegale Trawler kollidieren immer häufiger mit Pirogen von Kleinfischern und reißen fremde Netze. Überwachungsbehörden sind in armen Ländern aber zu schlecht ausgerüstet, um diese Verstöße zu ahnden (siehe Kasten auf S. 426).
Wie überall auf See und in Binnengewässern gibt es aber auch in der Kleinfischerei Überkapazitäten oder illegales Fanggerät. Immer mehr selbstorganisierten Kleinfischern und ihren Organisationen ist indessen bewusst, dass sie selbst dafür zuständig sind, ihre Ressource auf lange Sicht zu retten.
Das Verständnis wächst für Fangquoten, Schonzeiten, verbrauchsärmere Motoren und Netze mit größeren Maschen, durch die Nachwuchs durchschlüpft. Allerdings kämpfen viele Fischerfamilien kämpfen um das tägliche Überleben.
Große europäische Fischtrawler, zum Beispiel vor Mauretanien, frieren derweil Fisch unter Deck ein und verkaufen ihn zu Dumpingpreisen in Kamerun oder Nigeria. Damit ruinieren sie den lokalen Markt und drücken kleinere Wettbewerber in die Armut. Bedroht ist auf diese Weise auch die Lebensgrundlage von Millionen von Frauen, die Fisch an Land verarbeiten – ihn räuchern, salzen oder trocknen. Geschätzte 50 Millionen Frauen verarbeiten weltweit den täglichen Fang.
Mehrdimensionales Konzept nötig
Europäische Regierungen könnten dazu beitragen, solche Konflikte zu verringern (siehe Kasten unten). Die EU hat erkannt, dass sie verpflichtet ist, die Fischerei auch jenseits ihrer Hoheitsgewässer ökologisch und wirtschaftlich nachhaltig zu regeln. Ansonsten verlieren Millionen Menschen in armen Küstenregionen, die vom Klimawandel und vom Anstieg der Meeresspiegel besonders betroffen sind, ihre Lebensgrundlage und erschwingliche Nahrungsquellen.
Die industriell betriebene Fischerei gräbt ihr eigenes Grab. Laut FAO-Prognose wird kommerzieller Fischfang, wenn die aktuellen Trends bestehen bleiben, 2048 unmöglich. Niemand sollte darauf hoffen, dass Entwicklungsländer dann verlorene Arbeitsplätze und eiweißreiche Nahrung durch Fischfarmen ersetzen können. Beim Ausbau der Aquakultur in Asien sind außerdem ökologische und soziale Probleme sichtbar geworden, die gegen flächendeckende Einführung sprechen.
Dass deutsche Politiker und Verbraucher entwicklungspolitische Folgen der Überfischung erkannt haben, ermutigt nichtstaatliche Entwicklungsorganisationen wie Brot für die Welt. Sie sehen eine wichtige Aufgabe darin, die Selbstorganisation der Kleinfischer, Verarbeiterinnen und Händler zu fördern. Denn ihnen fehlt noch immer in internationalen Gremien die Macht, um durchzusetzen, dass Fischereipolitik arme Menschen und ihre Wirtschaft nicht ausblendet.