Kollektive Traumata
Das Erbe der Auschwitzprozesse
Der erste von Fritz Bauer initiierte Frankfurter Auschwitzprozess begann im Jahr 1963. Eines der Ziele von Bauer war es, zu verstehen, wie der Holocaust organisiert war und welche Rolle auch niedere Ränge der SS dabei spielten (siehe Haupttext). Die 1960er-Jahre waren auch das Jahrzehnt der Studentenbewegung – geprägt von linken Ideologien, die eher das Kollektive betonen als das Individuelle.
Doch Fritz Bauer betonte mit den Auschwitzprozessen die individuelle Verantwortung: Ihm ging es darum, dass alle selbstkritisch die eigene Haltung zum Nationalsozialismus überprüfen sollten. Dies rückte der jüngeren Generation die Verbrechen der Nazizeit ins Bewusstsein. Viele begannen, ihre Eltern nach deren Rolle im Holocaust zu fragen – und was sie getan hatten, um diesen zu verhindern. Dies geschah in einer Zeit, als es weiten Teilen der Gesellschaft darum ging, „nach vorne zu schauen“ und nicht in der schmutzigen Vergangenheit zu wühlen.
Das Bild Deutschlands im Ausland
Bis zu einem gewissen Grad beeinflussten die Prozesse auch das Image Deutschlands im Ausland. Sie zeigten, dass die Bundesregierung es mit der Aufarbeitung der Vergangenheit ernst meinte. Dies war nötig, weil noch immer viele ehemalige Nazi-Funktionäre unbehelligt in hochrangigen Regierungspositionen saßen. Die Regierung weigerte sich, sie zu entlassen. Insofern bestärkten die Auschwitzprozesse ausländische Regierungen in der Ansicht, dass sich Deutschland seiner Vergangenheit stelle.
Trotz dieser Auswirkungen war Fritz Bauer selbst nicht sehr glücklich mit dem Ausgang der Prozesse, wie Katharina Rauschenberger vom Fritz Bauer Institut in Frankfurt erklärt. Ihm wäre es lieber gewesen, die Angeklagten hätten im Prozess menschliche Regungen gezeigt und das Unrecht an den Opfern anerkannt. Stattdessen verbreiteten sie ihre Version der Geschichte: Sie schoben die Schuld auf die Führungsebene des Systems und gaben an, sie selbst hätten nur Befehle befolgt, um ihre eigene Haut zu retten.
Zudem wurden die Verbrechen wie „normale“ Verbrechen gemäß den Paragraphen für Mord im bundesdeutschen Recht behandelt. Die systematische Tötungsmaschine eines legitimierten Regimes, die mehr als eine Million Menschen in Auschwitz umbrachte, wurde reduziert auf Anklagen wegen Mordes und Beihilfe zum Mord – als wären dort alltägliche Verbrechen begangen worden.
Trotz aller Kritik: Die Auschwitzprozesse trugen dazu bei, ein gewisses Bewusstsein für den Holocaust und den Nationalsozialismus zu schaffen. Dennoch dauerte es noch ungefähr zwanzig Jahre, bis die Geschichtswissenschaft sich mit der Ermordung der europäischen Juden beschäftigte und die Perspektive der Opfer einbezog, wie Katharina Rauschenberger betont. Dies ist auch der Forschungsansatz des 1995 in Frankfurt am Main gegründeten Fritz Bauer Instituts.
Fritz Bauer selbst sei es darum gegangen, zur Demokratisierung der Nachkriegsgesellschaft beizutragen, sagt Katharina Rauschenberger. Über die deutsche Gesellschaft sprach er immer im Plural als „wir“ – und machte deutlich, dass die Verantwortung für die NS-Zeit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Obwohl er Jude war, nahm er sich selbst dabei nicht aus.
Im kollektiven Gedächtnis Deutschlands hat Fritz Bauer heute selbst einen festen Platz. Erst im vergangenen Jahr erhielt er postum die Wilhelm-Leuschner-Medaille, die höchste Auszeichnung des Landes Hessen.
Suparna Banerjee ist Politikwissenschaftlerin aus Frankfurt.
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