Lebensmittelpreise
Die Zahl der Hungernden weltweit steigt wieder
Nach rund zwei Jahren Corona-Pandemie erreichte Ende 2021 der von der UN-Food and Agriculture Organization (FAO) herausgegebene monatliche Preisindex einen Anstieg von über 30 Prozent, nachdem die Preise fast zehn Jahre relativ stabil gewesen waren. Die FAO misst mit diesem Index die Außenhandelspreise von Fleisch, Milch, Getreide, Zucker und Speiseölen. Während der Preis für Reis oder Zucker nur wenig anstieg, verdoppelten sich die Preise für Speiseöle.
Das führte schon 2021 dazu, dass selbst Haushalte in Ländern, die nicht so stark von den Weltpreisen abhängen, höhere Preise für Nahrungsmittel bezahlen müssen. Besonders Menschen im Globalen Süden kürzten deshalb ihre Essensrationen und verzichteten auf frische Nahrungsmittel wie Obst und Gemüse. Nur wenige Länder konnten es sich leisten, die hohen Preise durch „Brotsubventionen“ oder Programme zur sozialen Sicherung zu dämpfen. Vor allem Entwicklungsländer hatten dafür keine Ressourcen, da ihre Haushalte durch die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, die zunehmende Staatsverschuldung und die Abwertungen ihrer Währungen stark belastet sind.
Hohe Gewinnerwartungen von Spekulanten
In diese schon preislich krisenhafte Situation der Welternährung löste der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine eine Preisrally aus, deren Ausmaß besonders bei den Weizenpreisen – sowohl was Preisspitzen als auch Volatilität angeht – die Ernährungskrise von 2006 übertrifft. Innerhalb weniger Tage stieg der bereits hohe Weizenpreis um 50 Prozent.
Eine Ursache dafür sind die internationalen Finanzmärkte: In Erwartung hoher Gewinne setzten Investoren, besonders Indexfonds, massiv Kapital ein und spekulierten auf Handelsabschlüsse bei der Sommerernte 2022 und wetteten auf einen Ausfall der Getreideexporte aus der Schwarzmeerregion wie die investigative Nachrichtenplattform Lighthouse Reports offenlegte. Der russische Aggressionskrieg mit Hafenblockaden führte im Mai 2022 zum bisherigen Rekordpreis für eine Tonne Weizen von 438 Euro (2019: 175 Euro).
Die heftigen Kursbewegungen (Volatilität) auf der Weizenbörse und die hohe Anzahl von Finanztransaktionen weniger Akteure erklären nicht allein den Preisanstieg der gesamten Palette an Nahrungsmitteln. Aber die überdurchschnittlich hohe Zahl von Spekulationsgeschäften hält den Weltpreis für Weizen hoch. Sowohl die USA als auch die EU haben eigentlich Marktregeln, die die Lebensmittelspekulation durch Positionslimits beschränken sollen. Aber sie wurden von Aufsichtsbehörden nicht angewendet, was belegt wie sehr die Finanzwirtschaft das Instrument „Marktregulierung“ erfolgreich ausgehöhlt hat.
Paradox ist, dass wie seit Beginn des Preisanstiegs 2020, der plausibelste Grund für einen Preisanstieg, nämlich der Ausfall von Welternten auf dem Weizenmarkt, gar nicht vorlag, schon gar nicht vor Kriegsbeginn. Die Erntemengen 2021 fielen kaum geringer aus als in den Vorjahren, was sich auch jetzt nach den fast abgeschlossenen Ernten 2022 abzeichnet. Auch das Angebot auf den Exportmärkten – mit Ausnahme von Speiseölen – ist stabil. Das galt nach dem Istanbuler Abkommen zwischen der Ukraine und Russland selbst für Weizen. Allerdings hat die russische Regierung das Abkommen Ende Oktober aufgekündigt.
Wie es auf dem Weltmarkt weitergeht, ist schwer einzuschätzen. Klar ist aber, dass der Weizenpreis, sowie der anderer Getreidearten und Nahrungsmittel trotz guter Ernten in den vergangen Wochen kaum gesunken ist, was mit der Erwartung von Spekulanten zu tun hatte, Russland könne Verknappung wieder als Kriegswaffe einsetzen.
Fatale Koppelung von Energie- und Lebensmittelpreisen
Ein weiterer Grund, weswegen der Preisanstieg für Getreide und der andere Nahrungsmittel wie Fleisch, Milchprodukte, Zucker und Speiseöle weit vor der russischen Aggression begann, liegt in der fatalen Abhängigkeit der Landwirtschaft von den Energiekosten (Kirikkaleli et al., 2021).
Die Energiekosten für Maschinen und Fahrzeuge sowie die Herstellung von Betriebsmitteln machen in der Regel fast die Hälfte der Kosten beim Anbau von Weizen aus. Hinzu kommt dann noch die benötigte Energie für Transport, Lagerung und Verarbeitung, zum Beispiel zu Mehl, was die Weizenmenge auch noch um fast 25 bis 30 Prozent reduziert. Die Preise für Getreide, Fleisch und Milchprodukte sind also sehr abhängig von den Energiepreisen.
Das setzt sich mit der Ausweitung der industriellen Intensivlandwirtschaft ständig fort und dient den Interessen der Agrarkonzerne, die für Ertragsteigerungen die immer gleichen Antworten haben: noch mehr Agrarchemie, noch mehr Agrargifte, noch größere Maschinen und noch mehr Transport. Das Ganze funktioniert – betrachtet man ihre Gewinnmeldungen – bestens, besonders, wenn fossile Energie günstig zur Verfügung steht. Die Schäden für die Böden, die Biodiversität und vor allem für das Klima werden ja nicht den Verursachern auferlegt, sondern der Allgemeinheit.
Da hohe Preise für Gas und Öl bis zum vollständigen Ausstieg aus fossilen Energien zum Schutz des Erdklimas wohl bestehen bleiben, stellt sich die Frage nach einem radikalen Umbau der Ernährungssysteme immer dringender. Die Stimmen aus dem Globalen Süden, die eine Umkehr oder eine radikale Reduzierung der Abhängigkeit der eigenen Nahrungsversorgung vom globalen Roulette der industriellen Landwirtschaft fordern, werden immer lauter. Diese Verschärfung der Preiskrise für Getreide oder Speiseöle durch den russischen Angriffskrieg offenbarte so auch die Abhängigkeit vieler Staaten von Nahrungsimporten.
Importabhängigkeit reduzieren
Allerdings sollte man bei der Aufzählung der von ukrainischem oder russischem Weizen abhängigen Staaten etwas statistische Sorgfalt walten lassen und nicht nur auf die prozentuale Importabhängigkeit schauen, sondern auch auf die realen Importmengen. Der Kalorienanteil von Weizenprodukten am täglichen Kalorienverbrauch ist da ein besserer Gradmesser. Zum Beispiel haben Niger und Ägypten eine ungefähr gleich hohe Abhängigkeit von Weizenimporten (90 Prozent) über das Schwarze Meer. Während Weizenprodukte aber in Ägypten ein Drittel des täglichen Kalorienverbrauchs abdecken, sind es in Niger gerade ein Prozent.
Dennoch muss die zentrale mittelfristige Krisenreaktion für die meisten Staaten sein, die eigene Nahrungsproduktion zu steigern und unabhängiger von Importen zu werden. Das Menschenrecht auf ausreichende, gesunde und ausgewogene Ernährung ist eine Verpflichtung für alle Länder und für die internationale Staatengemeinschaft. Die Steigerung der akut hungernden Menschen aufgrund der Preiskrise, die weiter hohen Zahl an chronisch Hungernden und 2,3 Milliarden Menschen, die sich keine gesunde Nahrung leisten können, sind nach wie vor ein Skandal und eine Verletzung ihrer Rechte.
Da immer noch 70 bis 80 Prozent der produzierten Nahrung von bäuerlichen Familienbetrieben erzeugt werden, ist es unabdingbar, anzuerkennen, dass sie eine Schlüsselfunktion für die Beseitigung von Hunger, für die Reduzierung der Importabhängigkeit und die Senkung der Nahrungsmittelpreise haben.
Die Abkehr von Importabhängigkeit wie sie jetzt Regierungen von Entwicklungsländern, internationale Geldgeber, wie das BMZ, oder die Weltbank propagieren, darf aber nun nicht zu einer intensiveren Abhängigkeit von importiertem Hybridsaatgut, Chemiedünger oder Pestiziden führen. So würde die eine Abhängigkeit von fossiler Energie (Nahrungsmittel) durch eine andere (Betriebsmittel) abgelöst. Erst recht dürfen, wie jetzt in Kenia auf Druck der USA und ihrer Agrarkonzerne geschehen, nicht Entwicklungsgelder und Hilfslieferungen von der Freigabe von gentechnisch verändertem Saatgut abhängig gemacht werden, die das industrielle Agrarmodell voraussetzen.
Referenzen
The Hunger Profiteers, Lighthouse Reports 2022
https://www.lighthousereports.nl/investigation/the-hunger-profiteers/
Kirikkaleli, D., Darbaz, I., 2021: The Causal Linkage between Energy Price and Food Price. Energies 2021 14, 4182.
https://doi.org/10.3390/en14144182
Francisco Marí ist Referent Welternährung, Agrarhandel, Meerespolitik bei Brot für die Welt.
francisco.mari@brot-fuer-die-welt.de