Alternde Gesellschaft

Grau werdend

Indiens Bevölkerung wächst zwar weiterhin, aber ab Mitte des Jahrhunderts wird es mehr Menschen über 60 Jahre und Kinder unter 15 Jahren geben als solche im erwerbsfähigen Alter. Regierung und Zivilgesellschaft sollten jetzt über bessere soziale Angebote für die ältere Bevölkerung nachdenken.
Indien hat derzeit relativ wenig sehr junge und sehr alte Menschen: alter Mann mit Kind in Rajasthan. Birgit Koch/Lineair Indien hat derzeit relativ wenig sehr junge und sehr alte Menschen: alter Mann mit Kind in Rajasthan.

Indiens Bevölkerung wächst inzwischen nur noch um 1,1 Prozent pro Jahr. Da das Land 1,36 Milliarden Menschen hat, werden bis Ende dieses Jahrzehnts in absoluten Zahlen dennoch weitere 150 Millionen hinzukommen. Zugleich altert die Gesellschaft – und zwar schneller als in Industrie-ländern. Der Anteil der Über-60-Jährigen an der indischen Gesamtbevölkerung steigt von Jahr zu Jahr. Die Quote steigt dem Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA, 2017) zufolge von acht Prozent im Jahr 2015 auf 19 Prozent im Jahr 2050. Diese demografische Entwicklung wirft die Frage auf, wie Indien seine Alten ab Mitte des Jahrhunderts unterstützen wird – wenn es erstmals mehr Menschen im nicht erwerbsfähigen Alter gibt als solche im erwerbsfähigen Alter.

Die Gründe für die Vergreisung der Bevölkerung sind in Indien dieselben wie überall. Die Menschen leben dank besserer Gesundheitsversorgung, besserer Ernährung und besseren Hygienebewusstseins länger. Indiens Sterblichkeitsrate – die Anzahl der Todesfälle pro 1000 Einwohner in einem Jahr – sinkt seit Jahrzehnten stetig.

Zugleich bekommen Familien mit zunehmender Bildung und höherem Einkommen weniger Kinder. Seit Jahren sinken Fertilitätsrate (durchschnittliche Anzahl an Kindern pro Frau im Laufe eines Lebens) und Geburtenrate (auf die gesamte Bevölkerung in einem bestimmten Jahr bezogen) stetig. Zugleich hat die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren durch die Kontrolle von Infektions- und Parasitenkrankheiten, mehr Impfungen und generell verbessertem Gesundheitswesen enorm abgenommen. Daher überleben Kinder heute eher als früher, was die Folgen der niedrigeren Geburtenrate abschwächt.

Im Gegensatz zur Anzahl an Kindern steigt die Anzahl alter Menschen schnell. Der Alterungsindex zeigt diesen Trend deutlich. Er gibt die Anzahl der Menschen über 60 Jahre pro 100 Kinder unter 15 Jahren an. 1961 lag das Verhältnis bei 13,7 älteren Menschen pro 100 Kinder. Bis 2011 hatte sich die Quote auf 28,4 mehr als verdoppelt.

Diese Trends haben Implikationen für Indiens Zukunft. In 30 Jahren, wenn die heutige allmählich schrumpfende Kohorte von Kindern im erwerbsfähigen Alter ist, werden viele Millionen der heutigen Arbeitnehmer im Ruhestand sein. Diese Kombination – mehr Rentner und weniger Arbeitskräfte, die diese ersetzen – könnte schwierig werden. Es ist nicht klar, wie Indiens Arbeitskräfte die weit überwiegende Anzahl an nicht arbeitenden Menschen ab Mitte des Jahrhunderts unterstützen werden.

Aktuell genießt Indien noch eine „demografische Dividende“, womit wir meinen, dass es weitaus mehr Menschen im erwerbsfähigen Alter gibt als andere. Demografische Daten zeigen aber, dass sich die positive Quote kontinuierlich verkleinert. Statistiken belegen, dass 1971 Menschen im erwerbsfähigen Alter eine relativ große Kohorte von Babys und Kindern unter 15 Jahren versorgten sowie eine recht kleine ältere Bevölkerung. 40 Jahre später waren dann die Kinder des Babybooms erwachsen. Menschen zwischen 15 und 60 Jahren sind in der Überzahl – aus wirtschaftlicher Sicht ist das gut.

Doch wenn Demografen aktuelle Trends in die Zukunft projizierten, sieht es anders aus. 2031, in nur 11 Jahren, geht die große Kohorte im erwerbsfähigen Alter von 2011 in den Ruhestand. Bis 2031 wird die Basis der demografischen Pyramide – die Altersgruppen, in denen sich die meisten Menschen befinden – noch fest im Bereich des erwerbsfähigen Alters liegen, aber die gesamte Pyramide wird sich im Vergleich zu 2011 entlang der Altersachse nach oben verschoben haben. Es wird weit mehr Über-60-Jährige geben als 2011.

Die Demografen sehen für 2051 weitere Implikationen voraus. Dann wird die Altersgruppe der 50- bis 55-Jährigen – gerade noch im erwerbsfähigen Alter – die größte sein. Zudem wird es wesentlich mehr Über-55-Jährige geben als im Jahr 2031.

Zugleich wird es 2051 weniger Kinder unter 15 Jahren geben als noch 2031. Dies legt nahe, dass es ab 2051 nicht genügend Neueinsteiger geben wird, um die zu ersetzen, die in Rente gehen. Es wird mehr Menschen im nicht erwerbsfähigen Alter geben als solche im erwerbsfähigen Alter, was die Erwerbsbevölkerung erheblich belasten wird.


Bedarf an neuen sozialen Diensten

Das alles wirft die Frage auf, wo finanzielle, soziale und psychologische Unterstützung für die alternde indische Bevölkerung herkommen soll. Familie ist in der indischen Kultur nach wie vor die wichtigste Stütze der Alten, doch das ändert sich in den Zeiten von Urbanisierung und Globalisierung.

Neben der finanziellen Abhängigkeit treffen die älteren Menschen auch Probleme wie Isolation, Krankheit und Behinderung hart. Individuelle Erfüllung wird wichtiger, weshalb sich für Ältere das Gefühl verstärken könnte, nicht wertgeschätzt zu werden.

Alle diese Themen sollten von Regierungen, nicht-staatlichen Initiativen und Wissenschaftlern angegangen werden, ehe sie akut werden. Alle Seiten müssen zusammenarbeiten. Indien wird einen komplexen Ansatz brauchen, der die unterschiedlichen Bedürfnisse verschiedener Untergruppen älterer Menschen berücksichtigt. Besonders ist auf älter werdende Arme, Frauen und Landbewohner zu achten.

Das Bemühen, die Lebensqualität der Alten zu verbessern, sollte auf demografischen Fakten beruhen. In den indischen Bundesstaaten gibt es unterschiedlich viele alte Menschen. 2011 hatte der Bundesstaat Kerala proportional die meisten Über-60-Jährigen (12,3 Prozent) und Assam die wenigsten (6,5 Prozent).

Auch variiert das Ausmaß von Armut und Analphabetismus innerhalb der älteren Bevölkerung stark. Zudem gibt es in ländlichen Gebieten tendenziell mehr ältere Menschen als in Städten, wo es jüngere Arbeitnehmer hinzieht. Es gibt auch einen geschlechtsspezifischen Aspekt: Frauen leben durchschnittlich länger als Männer, somit werden wahrscheinlich viele der Über-60-Jährigen weiblich sein.

Diese Faktoren – Geografie, Urbanisierung, Geschlecht, Einkommen und Bildung – beeinflussen Grad und Art der Unterstützung, die ältere Menschen benötigen werden. Dies gilt auch für immaterielle Aspekte wie der Wandel von Normen und Werten, der Einfluss darauf hat, wie viel Hilfe ältere Menschen von ihren Familien erhalten und wie viel Regierung und Zivilgesellschaft zusätzlich unterstützen müssen.

Indien hat begonnen, die Bedürfnisse Älterer wahrzunehmen. Das integrierte Programm für ältere Menschen von 1992 (2008 überarbeitet), sieht Nahrung und Unterkunft, medizinische Versorgung und Unterhaltung vor. Die „nationale Strategie für ältere Menschen“ von 1999 zielt auf Nahrung und Unterkunft, finanzielle Unterstützung, Gesundheitsversorgung und Schutz vor Missbrauch ab. Ein Gesetz zum Erhalt und Wohlergehen von Eltern und Senioren von 2007 (The Maintenance and Welfare of Parents and Senior Citizens Act) bietet verlassenen Senioren Altersheime, medizinische Einrichtungen und Eigentumsschutz.

Die zugrunde liegende Politik soll die Bedürfnisse älterer Menschen aus bestimmten Bevölkerungsgruppen erfüllen. Mit zunehmender Alterung werden solche Maßnahmen immer wichtiger.


Quelle
UNFPA, 2017: India ageing report.


S. S. Sripriya ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Tata Institute of Social Sciences in Mumbai.

S. Siva Raju ist Professor am Campus desselben Instituts in Hyderabad.
https://tiss.edu/view/9/employee/s-sivaraju/