HBO-Miniserie
„Chernobyl“: Der Preis der Lüge
Am 26. April 1986 geriet Reaktor 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl außer Kontrolle. 37 Jahre nach dem Unglück ist das Areal um die gleichnamige Stadt im Norden der heutigen Ukraine noch immer unbewohnbar. Das wird sich auf absehbare Zeit auch nicht ändern, denn die Sperrzone um das ehemalige Kernkraftwerk gilt laut Greenpeace für Jahrtausende als radioaktiv verseucht.
Im Geschichtsdrama „Chernobyl“ suchen der Chemiker Valery Legasov, gespielt von Jared Harris, und die Atomphysikerin Ulana Khomyuk (Emily Watson) unmittelbar nach dem Unglück nach seiner Ursache. Die Wissenschaftler*innen beißen sich an sowjetischen Funktionären die Zähne aus. Diese verharmlosen den Unfall und zeigen kein Interesse an dessen Aufklärung. Boris Scherbina, gespielt von Stellan Skarsgård, ist ihr einziger Verbündeter. Der Politiker kennt sich im Staatsapparat aus. Mit seiner Hilfe manövriert sich das Duo durch das sowjetische System.
Die Serie verzichtet auf spektakuläre Spezialeffekte für die Reaktorexplosion. Die Zuschauer*innen erleben die Katastrophe aus der Perspektive der Menschen vor Ort. Das bedeutet, dass von der Katastrophe zunächst nur ein lauter Knall zu hören ist. Das Publikum sieht und hört also nicht mehr als die Figuren – das Ausmaß dessen, was eigentlich geschehen ist, zeigt sich erst in der letzten Folge, als der Hergang bei einer Gerichtsverhandlung aufgearbeitet wird.
Dass der Ausgang der Geschichte den Zuschauer*innen bekannt ist, schadet der Spannung der Serie nicht. Die erste Folge erinnert an einen dystopischen Thriller: Familien versammeln sich vor ihren Häusern in Tschernobyl und bestaunen die farbigen Lichter, die durch einen Brand im Atomkraftwerk am Nachthimmel erstrahlen. Kinder spielen in radioaktiver Asche, die sie für Schnee halten. Sie ahnen nicht, dass sie lebensgefährlicher Strahlung ausgesetzt sind. Mit dem heutigen Vorwissen sind solche Momente schwer mit anzusehen.
„Chernobyl“ sucht keinen Schuldigen
Die Serie präsentiert keinen Schuldigen für die Katastrophe, obwohl sich einer anbieten würde. In der ersten Folge schikaniert der cholerische Anatoly Dyatlov, gespielt von Paul Ritter, seine Kollegen im angespannten Kontrollraum des Kernkraftwerks. Als leitender Ingenieur will er den Unfall nicht wahrhaben, obwohl er Grafit auf dem Boden liegen sieht – ein eindeutiges Indiz für die Explosion. Der echte Dyatlov saß für die Missachtung der geltenden Sicherheitsprotokolle im Gefängnis. Die Serie charakterisiert ihn jedoch als Sündenbock. Die staatlichen Vertuschungsversuche um einen Konstruktionsfehler im Reaktor seien der eigentliche Grund für den Unfall.
Tschernobyl beeinflusste die Debatte um Kernenergie nachhaltig. Die Anti-Atomkraft-Bewegung gab es zwar schon vorher, doch der Unfall weckte das kritische Bewusstsein für die Gefahren der Technologie auch in der breiten Bevölkerung vieler Industriestaaten.
„Chernobyl“ sei allerdings weder ausdrücklich antikommunistisch noch als Plädoyer gegen Atomkraft gemeint, betont Drehbuchautor Craig Mazin in einem Interview mit dem Slate Magazine. Er wolle mit „Chernobyl“ vielmehr vor den Gefahren der Desinformation warnen. Protagonist Valery Legasov beginnt und beendet die Geschichte deshalb mit der Frage: „Was ist der Preis der Lüge?“
Mazin ist für die „Hangover“-Komödien bekannt. Nicht viele dürften ihm eine Geschichte wie „Chernobyl“ zugetraut haben.
HBO wurde für das Vertrauen in den Autor belohnt. „Chernobyl“ verzeichnete kurze Zeit nach Serienstart die besten Bewertungen auf der Internet-Filmdatenbank IMDB. Zudem gewann die Serie zahlreiche Fernsehpreise für den Sender.
Angesichts der anhaltenden Atomdebatte in vielen Ländern und der zunehmenden Desinformationskampagnen im Internet sind die Themen von „Chernobyl“ auch Jahrzehnte nach dem Reaktorunglück noch immer hochaktuell.
Serie
„Chernobyl“, 2019, Vereinigte Staaten und Vereinigtes Königreich, Regisseur: Johan Renck.
Mustafa Shrestha ist Student für Online-Journalismus an der Hochschule Darmstadt. Er hat diesen Text im Rahmen seines Praktikums bei E+Z/D+C verfasst.
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