Muslimbrüder

„Anzug und Krawatte“

Angesichts der ägyptischen Revolution sucht auch die Muslimbruderschaft ihre neue Rolle. Die Politikwissenschaftlerin Ivesa Lübben erörtert Mitte April mit Hans Dembowski die politische Bedeutung dieser religiös-konservativen Organisation.

Interview mit Ivesa Lübben

Ist die ägyptische Muslimbruderschaft ein monolithischer Block?
Nein, es handelt sich um eine breite Volksbewegung mit vielen Strömungen, die in jedem Dorf und jeder Straße vertreten ist. Oft sind es Angehörige der akademisch gebildeten Eliten und Geschäfts­leute. Aber Muslimbrüder sind auch in der Arbeiterschaft präsent, und entsprechend gibt es auch Interessenkonflikte.

Wie geht die Organisation damit um?
Die Muslimbruderschaft vertritt eine populistische Ideologie zwischen Sozialismus und Kapitalismus und impliziert eine gewisse Klassenharmonie zwischen Kapital und Arbeit. Man glaubt zudem, dass der Islam als ethisches Band Ausbeutung verhindert, da er zur sozialen Gerechtigkeit verpflichtet. Die Muslimbruderschaft hat verschiedene soziale Schichten erreicht, da es – vor allem außerhalb der großen Städte – kaum andere Organisationen gab, denen Leute sich hätten anschließen können, wenn sie eine Alternative zum Mubarak-Regime suchten.

Ähnelt die Bruderschaft vielleicht der evangelischen Kirche in der DDR, die lange der Opposition ein Dach bot, nach der Wende aber schnell an politischer Bedeutung verlor?
Nein, dafür ist sie zu politisch und zu gut organisiert. Und anders als die ehemalige DDR ist Ägypten ein sehr religiöses Land. Der Anteil derer, die bei Umfragen sagen, ihnen sei der Glaube wichtig, ist größer als in anderen islamisch geprägten Staaten. Die meisten sagen, die Religion solle die Grundlage des Rechts bilden, fordern aber gleichzeitig Demokratie. Sie empfinden das nicht als Widerspruch. Im Gegenteil: Der Islam verspricht ihrem Verständnis nach Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Viele Menschen haben das Gefühl, dass Werte und Normen religiös verankert sein müssen, weil sonst nur hohe Strafandrohung für Wohlverhalten sorgen kann. Diese Haltung ist weit verbreitet – auch unter koptischen Christen.

Wie positionieren sich die Muslimbrüder denn gegenüber anderen Religionsgemeinschaften?
Grundsätzlich wird ihre Existenz akzeptiert. Neulich sagte Saaed Katatni, ein prominenter Muslimbruder, sogar, Ba’hais stünde die Mitgliedschaft in der künftigen Partei seiner Organisation offen. Diese Religionsgemeinschaft wird im Islam eigentlich nicht geduldet. Das war allerdings eine Einzelstimme und nicht die Position der Muslimbruderschaft, die es so eindeutig gar nicht gibt.

Die Muslimbrüder waren lange im Untergrund. Ist es möglich, Strömungen klar zu benennen?
Das ist schwierig. Es gibt konservative Traditionalisten und junge Reformer. Manche wollen sich auf die Religion konzentrieren, andere auf die Politik. Zuletzt ist der Arbeiterflügel immer wichtiger geworden. In vieler Hinsicht ähnelt die Bruderschaft aber den westdeutschen Christdemokraten in den 50er oder 60er Jahren. Ihre Mitglieder orientieren sich an fromm-religiösen Werten, die sie aber nicht wortwörtlich auf die Politik übertragen. Es sind viele Apotheker und Ärzte dabei, aber auch mittelständische Unternehmer – etwa aus dem Baugewerbe. Viele gehören zur Provinzelite. Der typische Muslimbruder trägt Anzug und Krawatte.

Das klingt eher nach dem türkischen Premier Recep Tayyip Erdogan als nach Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah. Deutsche Medien assoziieren aber eher Vollbärte mit islamischem Fundamentalismus als Anzüge.
Vollbärtige Fundamentalisten gibt es in Ägypten auch. Das sind aber nicht Muslimbrüder, sondern Salafis, die sich an saudischen Wahabiten orientieren. Sie genossen unter Mubarak eine Art Narrenfreiheit. Sie waren für das alte Regime nützlich, weil sie einerseits eine fromme Gegenposition zu den Muslimbrüdern bezogen, andererseits aber allen, die nicht zu ihnen gehören, Angst machen. Religiöse Minderheiten glaubten deshalb lange, nur das Mubarak-Regime schütze sie vor der Islamisierung.

Im Referendum Ende März stimmte die überwältigende Mehrheit der Ägypter für die Verfassungsänderungen, die das Militär vorgeschlagen hatte und die unter anderem von der alten Staatspartei NDP und den Muslimbrüdern befürwortet wurden. War das eine Vorentscheidung für eine von der Bruderschaft dominierte Zukunft?
Ich glaube nicht. Manche Ägypter argumentieren zwar so, dass 77 Prozent für die Scharia gestimmt hätten, was zeige, wie viel Aufklärungsarbeit die demokratischen Kräfte noch zu leisten hätten. Ich halte das aber aus verschiedenen Gründen für falsch. NDP und Muslimbrüder haben nichts miteinander zu tun, und ihre Motive beim Referendum waren völlig andere. Die NDP ist in verschiedene Flügel auseinandergebrochen. Immer mehr ehemalige Spitzenfunktionäre sitzen inzwischen hinter Gittern. Die Muslimbrüder wollen schnelle Wahlen und erst nach der Stabilisierung der Revolution eine intensive Verfassungsdebatte. Die vielen Ja-Stimmen beim Referendum können auch einfach bedeuten, dass die Mehrheit der Ägypter schnell von der Militärregierung zu einer demokratisch legitimierten Ordnung übergehen will.

Dennoch hat das Referendum eher die Kräfte gestärkt, die für das „Ja“ geworben hatten.
Ich glaube nicht, dass solche Schwarzweißmalerei weiterhilft. Das Referendum war keine abschließende Abstimmung über die Verfassung. Es ging um die Korrektur einiger undemokratischer Artikel der alten Verfassung. Die Amtszeit des Präsidenten wurde beschränkt und die Kriterien dafür, wer kandidieren darf, wurden erweitert. Grundsätzlich darf jetzt auch ein Kopte Präsident werden. Das Referendum sieht auch die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung vor. Es wurde langfristig nichts entschieden …

… außer, dass die Muslimbrüder mit ihrem hohen Organisationsgrad einen Startvorteil bekommen.
Und selbst das sollte nicht überbewertet werden. Die liberalen und die linken Kräfte verfügen auch über Organisationsstrukturen, die sie nutzen können und sollten. Und es gab ja auch unter dem alten Regime liberale und linke Oppositionsparteien – offiziell zugelassen oder marginal geduldet wie die Muslimbruderschaft. Aber sowohl bei den Liberalen als auch bei den Linken gibt es die Tendenz, dass jede starke Persönlichkeit erwägt, eine eigene Partei zu starten. Der Hauptvorteil der Muslimbrüder ist ihre hohe Disziplin – übrigens auch als Beitragszahler. Sie sind sich aber auch nicht in allem einig, in ihren internen Diskussionen fliegen die Fetzen. Im Gegensatz zur liberalen und linken Konkurrenz ist ihnen aber weitgehend klar, dass sie zusammen agieren wollen – wobei einige junge Muslimbrüder auch schon über eine eigene Partei diskutieren. Die Kluft zwischen alten Garden und den Mittzwanzigern bis Mittdreißigern ist in der gesamten ägyptischen Gesellschaft heute deutlich zu spüren.

Sie selbst klingen nicht so, als würde Sie die Aussicht auf wachsenden politischen Einfluss der Muslimbrüder sonderlich beunruhigen.
Ich persönlich verstehe mich als Säkularist. Die Bruderschaft hat patriarchalische und sicherlich auch autoritäre Züge. Sie sollte aber trotzdem nicht dämonisiert werden. Sie ist in der Gesellschaft verwurzelt und gehörte zur Opposition gegen Mubarak. Im Moment herrscht in Ägypten ein recht breiter Konsens, dass demokratische Verhältnisse mit freien Wahlen angestrebt werden, und diesen Konsens teilen die Muslimbrüder.

Hat die Muslimbruderschaft denn das nötige pluralistisch-demokratische Selbstverständnis für eine positive Rolle in einer neuen Gesellschaftsordnung?
Das lässt sich jetzt noch nicht sagen – übrigens auch nicht, was andere politische Kräfte angeht. In einer Demokratie muss ja nicht nur das konservativ-reli­giöse Lager zu Kompromissen und Bündnissen fähig sein. Aber das sind Lernprozesse, die die ägyptische Gesellschaft selber machen muss. Die Muslimbrüder bekennen sich im Entwurf eines Parteiprogramms zu allen demokratischen Grundsätzen wie freien Wahlen, Machtzirkulation, Meinungs- und Parteienpluralismus, Gewaltenteilung et cetera. Auch haben sie vorgeschlagen, dass alle revolutionären Kräfte bei der nächsten Wahl eine Einheitsliste bilden, sind damit aber nur auf geringe Resonanz gestoßen.

Sie würden das doch nur tun, um unter der Hand ihre Theokratie vorzubereiten.
Das klingt nach Verschwörungstheorie. Solch eine „hidden agenda“ würde die Muslimbruderschaft aber überfordern. Sie fordert seit Jahren demokratische Verhältnisse und rekrutiert auf dieser Basis neue Mitglieder. Sie kann nicht einfach auf eine ganz andere, fundamentalistische Agenda umschalten, viele Mitglieder würden weglaufen. Manche hier im Westen argumentieren, der Islam kenne das Prinzip der Taqiya, bei dem man seine Meinung und Ziele taktisch versteckt. Dies ist aber ein schiitisches Konzept, das dem sunnitischen Islam fremd ist. Die Muslimbruderschaft ist im Kern eine Organisation des gebildeten, konservativen Mittelstandes, deren Jugendverband jetzt unruhig geworden ist. So eine Organisation lässt sich kaum zentral von oben durch Anweisungen steuern.

Die Hamas in Palästina hat ihre Wurzeln in der Muslimbruderschaft. Haben die ägyptischen Muslimbrüder über die nationalen Grenzen hinaus Einfluss?
Es gibt in vielen arabischen Ländern Ableger, und formal geben die Ägypter den Ton an. Was die konkrete Politik angeht, agieren die verschiedenen Ableger aber recht unabhängig. Die Richtlinienkompetenz des Dachverbandes ist vermutlich stärker als in der Sozialistischen Internationalen, aber auch nicht sehr viel stärker.

Gibt es eine direkte Verbindung zur AKP Erdogans?
Es gibt persönliche Kontakte, und die werden auch gezielt ausgebaut, aber es besteht keine formal-organisatorische Verbindung. Erdogans Mentor Erbakan bezeichnete sich als Vertreter der Muslimbruderschaft in der Türkei, aber Erdogan und seine Leute sagten sich von ihm los, um die AKP zu starten.

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