Mulitlaterale Politik
Armut und Exklusion sind nicht dasselbe
[ Interview mit Luiz Ramalho ]
Sie haben den Bericht „Outsiders?“ der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IADB) gelesen. Was fanden Sie an dem Papier dieser multilateralen Institution bemerkenswert?
Der Bericht findet einen neuen Zugang zu sozialer Exklusion in Lateinamerika. Auf dem Kontinent wächst die Wirtschaft – aber auch die Ungleichheit. Erst seit einiger Zeit kommt die Hoffnung auf, öffentliche Politik könne die Ungleichheit ein wenig verringern. Die IADB-Autoren differenzieren auf interessante Weise. Soziale Exklusion wird häufig auf spezifische Bevölkerungsgruppen bezogen, wie z. B. Frauen, indigene Völker, Lateinamerikaner afrikanischer Herkunft. Wichtiger ist aber, dass sie Ausgrenzung als Folge davon verstehen, wie in Lateinamerika Menschen wirtschaftlich und gesellschaftlich miteinander umgehen. Exklusion ist dann nicht mehr das Problem einzelner, segregierter Gruppen, sondern ein Mechanismus, der die gesamte arme Bevölkerung betrifft.
Wie funktioniert Ausgrenzung?
Es geht darum, dass große Teile der Bevölkerung durch formelle und informelle Prozesse benachteiligt werden. Beispielsweise ist Wasser, ein einfaches und lebenswichtiges Gut, für arme Menschen, die nicht an öffentliche Versorgungssysteme angeschlossen sind, teurer als für besser gestellte Leute, die am Netz sind. Der Zugang zum Bildungs- oder Gesundheitswesen ist für arme Menschen nicht nur finanziell kaum erschwinglich, sie stehen auch vor kulturellen und anderen Schranken. Die Medien artikulieren ihre Interessen nicht, ihre Organisationen artikulieren sich nicht so, dass sie politisch Gewicht hätten. Die gesellschaftliche Interaktion ist in einer Weise organisiert, die Teilhabe verhindert.
Was bringt diese Sicht?
Daraus folgen neue Ansätze, um Politik zu gestalten. Es geht nicht mehr nur um „affirmative action“ und Programme, die auf bestimmte Bevölkerungsgruppen abzielen und Armut beispielsweise mit Einkommenstransfers bekämpfen. Die Politik muss stattdessen Ausgrenzungsprozesse mildern und stoppen. Und da geht es im Wesentlichen um Zugang zu Opportunitäten, um politische Beteiligung, Erweiterung von Humankapital, Möglichkeiten der Selbstorganisation.
Was heißt das konkret?
Armut und Exklusion sind nicht dasselbe. Armut wird zum Beispiel am Einkommen gemessen. Aber wenn man dieses mit Transferprogrammen erhöht, bleiben die anderen Ausgrenzungsfaktoren in Kraft. Also muss die Politik das Problem der Exklusion anders angehen. Sie muss Zugang zu Bildungs- und Gesundheitswesen schaffen und wird damit auch die Armut wirkungsvoller bekämpfen als mit Geldtransfers. Sie muss benachteiligten Einfluss verschaffen, sie muss „empowern“.
Nimmt der Report Bezug auf wirtschaftsliberale Dogmen, denen zufolge Wachstum allen dient und freie Märkte am dynamischsten wachsen?
Es wird eine Abkehr von solchen Theorien ersichtlich. Die IADB erkennt an, dass soziale Exklusion in der Politik multilateraler und zum Teil auch bilateraler Agenturen bisher nicht ausreichend beachtet wurde. Die vorgeschlagene Mischung aus Wirtschaftspolitik mit gezielten Maßnahmen gegen soziale Exklusion ist vielleicht kein Novum, aber sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Die Bank vollzieht nach, was sich in Mexiko oder Brasilien schon bewährt hat – etwa Einkommenstransfers an arme Familien vom Schulbesuch der Kinder abhängig zu machen. Es geht letzlich darum, Menschen zu befähigen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Das Ziel ist nicht Umverteilung als Prinzip, sondern die schon lange beschworene Hilfe zur Selbsthilfe. Bemerkenswert ist das auch insofern, als Entwicklungsbanken sich normalerweise um Finanzströme, aber nicht unbedingt um das soziale Funktionieren von Gesellschaften kümmern.
Wie passen die IADB-Vorstellungen denn zur Politik von anderen Geberinstitutionen, zum Beispiel der Weltbank oder auch von InWent?
Die Weltbank ist selbst dabei, sich solche konditionierten Transferprogramme genau anzuschauen. Aber die IADB hat mit diesem Report wirklich einen Schritt nach vorn gemacht. Für InWent ist das erfreulich, weil sie auf Dinge abzielt, die auch InWent in den Vordergrund stellt: die Bildung von Kapazitäten, von Fähigkeiten, von Human- und Sozialkapital. Es geht um komplexe Dinge. Es ist viel wert, im Bildungssektor voranzukommen. Aber das ist nicht alles, es geht auch um Dinge wie Selbstorganisation, Selbstbestimmung und kollektives Handeln. InWEnt betont, dass man auf drei Ebenen ansetzen muss. Dazu gehört die politische, wie das die Bank auch tut. Wichtig ist darüber hinaus die Ebene der sozialen Organisationen, von Verbänden etwa. Und letztlich ist es immer auch ein Prozess individueller Kapazitätsentwicklung.
Sind die Vorstellungen der Bank denn in Lateinamerika politisch ohne weiteres anschlussfähig?
Soziale Exklusion ist als Konzept so unpräzise, dass es fast alle Parteien und Gruppierungen im politischen Diskurs Lateinamerikas verwenden. Das Thema dient der Mobilisierung, sie trifft einen Nerv. Positiv daran ist, dass Ausgrenzung gesellschaftlich dadurch immer weniger akzeptabel erscheint. Der Nachteil der geringen Klarheit ist aber, dass viele große Programme nicht recht funktionieren. Daran, wie Exklusions-Mechanismen durchbrochen werden können, muss weiter gearbeitet werden.
Die Fragen stellte Hans Dembowski.