Ehetraditionen
Erst Heirat, dann Liebe?
Sie hat einen Top-Hochschulabschluss, eine gutbezahlte Managementposition und das eigene Auto in der Garage: Kenza (alle Namen geändert), 32 Jahre, aus Marokko ist stolz auf ihre Karriere und auf ihre finanzielle Eigenständigkeit. Obwohl sie sich ein eigenes Apartment längst hätte leisten können, wohnte sie bislang zu Hause. „Ich verstehe mich bestens mit meinen Eltern,“ erklärt sie. „Warum hätte ich ausziehen sollen, bevor ich heirate?“ Mittlerweile ist Kenza verlobt. Ihren künftigen Ehemann hat sie bei einer Fortbildung kennengelernt. Über die Chatfunktion bei Facebook kamen sie sich näher. „Wir hatten uns viel zu sagen, und dann hat es gefunkt – außerhalb von Facebook“, sagt die junge Frau lachend.
Kenza hat sich ihren Traum von der romantischen Liebesheirat erfüllt, doch die Konventionen zählen trotzdem. Selbstverständlich ist ihr Mann Muslim – einen Nichtmuslim könnte sie nach marokkanischem Recht nicht heiraten, die Zivilehe existiert nicht. Vor der Verlobung brauchte sie die Zustimmung ihrer Eltern. Damit verbunden waren die klassischen Kennenlern-Rituale zwischen den Familien: Gegenseitige Besuche der Mütter und Tanten und das diskrete Gegenchecken von Informationen über den Leumund der Schwiegerfamilie. Bei allem Sinn für Romantik wollten Kenzas Eltern doch genau wissen, ob der Kandidat die passende Ausbildung, genügend Vermögen und die richtigen Manieren hatte.
Die Zustimmung ihrer Eltern, vor allem des Vaters, war Kenza sehr wichtig. Seit der Familienrechtsreform 2004 braucht eine Frau in Marokko nicht mehr zwingend die Unterschrift des Vaters oder eines anderen männlichen Vormundes, um zu heiraten. „Ich finde das gut, denn ich bin schließlich eine erwachsene Frau und kann für mich selbst einstehen. Aber ich könnte mir nicht vorstellen, jemanden zu heiraten, mit dem meine Eltern nicht einverstanden sind“, räumt Kenza ein.
Mix aus Moderne und Tradition
Der erfrischende Mix aus Modernität und Traditionsbewusstsein, mit dem Kenza ihre Ehe anbahnt, steht im Widerspruch zu manch stereotypen Wahrnehmungsmustern des Westens (siehe dazu El Feky 2013). Seit dem 19. Jahrhundert sind die Rolle der Frau und die Organisation der Geschlechterbeziehungen prägend für die gegenseitige Wahrnehmung des Westens und der sogenannten arabischen Welt. Die Araber beschworen die mutmaßliche Verderbtheit westlicher Frauen, die mit ihrem Emanzipationsdrang die Familienwerte zerstören wollten, und stärkten dadurch das Gefühl moralischer Überlegenheit; in Europa wertete man symbolisch die eigene Identität auf, indem man die arabische Welt pauschal für zurückgeblieben erklärte und dies dem Schleier und der Unterdrückung der arabisch-muslimischen Frau anlastete.
Beide Vorstellungsmuster waren konstruiert, sind aber im kollektiven Bewusstsein wirksam – bis heute. Aktuell ist der westliche Blick auf die Gesellschaften des Nahen Ostens und Nordafrikas (MENA) stark beeinflusst durch Medienberichte über sexuelle Gewalt gegen Frauen durch die Terrormiliz ISIS sowie durch Zwangsheiraten (siehe Kasten). Laut UNICEF ist unter syrischen Flüchtlingen in Jordanien die Zahl der verheirateten jungen Frauen unter 18 Jahren von 13 Prozent (vor dem Krieg) auf über 30 Prozent gestiegen – eine Entwicklung, die vor allem mit Krieg und Flucht zu tun hat. In den Lagern und den oft prekären Umständen funktionieren die hergebrachten sozialen Netzwerke und Kontrollmechanismen nicht. Um der Armut zu entfliehen und um das Ansehen des Mädchens und der Familie zu schützen, verheiratet man die Töchter so rasch wie möglich nach dem Eintreten der Pubertät.
Die aktuellen Heiratsraten in den syrischen Flüchtlingscommunities sind somit nicht repräsentativ, aber die Berichterstattung bedient bekannte Wahrnehmungsmuster. Dies tun auch spektakuläre Fälle wie der der 16-jährigen Marokkanerin Amina Filali, die nach einer Vergewaltigung per Gericht gezwungen wurde, ihren Vergewaltiger zu heiraten, und die sich daraufhin das Leben nahm. Beispiele wie diese schüren das Vorurteil, dass die Kinderehe in der arabischen Welt die Norm sei und dass arabische Ehemänner ihre Ehefrauen per se wie Gefangene oder gar Sklavinnen behandelten.
Religiöse Rechtfertigung für Kinderehe
Pauschal und in extremer Form gilt dies sicher nicht. Tatsache ist aber, dass in nahezu allen arabischen Ländern – außer Tunesien – die Freiheit und die Handlungsspielräume von Frauen und Mädchen durch patriarchale Mentalitäten und diskriminierende Gesetze stark eingeschränkt sind. Streng konservative muslimische Religionsgelehrte behaupten, Frauen und Männer seien mit dem Eintreten der biologischen Geschlechtsreife (Menstruation oder Samenerguss) erwachsen und damit auch psychosozial reif für die Ehe. Sie liefern die theologisch-ideologische Rechtfertigung, um im Sudan, Saudi-Arabien oder dem Jemen manche Mädchen schon im zarten Alter von neun Jahren zu verheiraten.
In Ländern wie Marokko, Tunesien und Jordanien wurde das Mindestheiratsalter im Einklang mit internationalen Konventionen zwar auf 18 Jahre heraufgesetzt, doch mittels richterlicher Ausnahmegenehmigungen werden vor allem in ländlichen oder von Armut geprägten Milieus sowie in Konfliktzonen Mädchen oft schon mit 14 oder 15 Jahren verheiratet. Nach einer aktuellen Studie des Population Reference Bureau von 2013 ist in den arabischen Ländern durchschnittlich jedes siebte Mädchen unter 18 Jahren verheiratet. Laut derselben Studie sind in Marokko insgesamt 13 Prozent und in Jordanien insgesamt 8 Prozent aller verheirateten Frauen minderjährig.
In den meisten arabischen Ländern haben Frauen nach wie vor nicht das Recht, selbst ihren Ehevertrag zu unterschreiben, sondern brauchen zwingend die Zustimmung des Vaters oder eines männlichen Vormundes (wali, mahram). Zu den Ausnahmen zählen Tunesien, Marokko und Algerien. Ein weiterer Zwangsfaktor ist die sogenannte Cousinehe, die unter anderen in einigen arabischen Golfstaaten sowie im Libanon, Jordanien, Palästina, Saudi-Arabien und Marokko verbreitet ist und die sowohl Frauen als auch Männer trifft. Hierbei verfügt die Familie, dass Cousins ersten Grades miteinander verheiratet werden. Generell geht diese Tradition aber zurück. Sie wird heutzutage vor allem in ländlichen Gebieten und in Konfliktzonen praktiziert. In Marokko sind derzeit noch rund 15 Prozent aller Eheschließungen Cousinehen, in Jordanien sollen es rund 20 Prozent sein.
Tiefgreifender Wandel
Rechtliche, soziale und kulturelle Zwänge spielen in arabischen Gesellschaften also nach wie vor eine erhebliche Rolle, wenn es ums Heiraten geht. Doch gleichzeitig lässt sich beobachten, dass die sozialen Strukturen, die Mentalitäten und damit auch das Heiratsverhalten in den Gesellschaften der MENA-Region einen tiefgreifenden Wandel durchmachen. Die massive Landflucht, die rasante Verstädterung, der bessere Zugang von Mädchen zu Bildung, gepaart mit veränderten Ansprüchen an Ehe und Familie, sind die Ursachen. Viele junge Männer können aufgrund ökonomischer Krisen und Veränderungen ihre klassische Versorgerrolle in der Familie nicht mehr erfüllen. Gleichzeitig wollen viele gebildete junge Frauen sich nicht länger dem Diktat der überkommenen Rollenmuster und Großfamilien unterwerfen. Sie wünschen sich stattdessen romantische Ehen und die Kleinfamilie nach westlichem Vorbild mit zwei bis drei Kindern. Das durchschnittliche Heiratsalter von Frauen ist in Marokko auf 27 Jahre, in Jordanien auf 25 Jahre gestiegen – Tendenz weiter aufwärts.
Widad, 30 Jahre, Ingenieurin aus Jordanien, hat ihren Traumpartner gefunden. Anders als für die Marokkanerin Kenza war das Single-Dasein für sie nie eine Option, auch nicht theoretisch. Denn in Jordanien bleibt eine Frau, die nicht heiratet, ihr Leben lang ein Kind: „al-bint“ (arabisch: die Tochter). Erst wenn sie heiratet, gehört sie zur Welt der Erwachsenen.
„In demokratischen Familien wie unserer wird die Tochter vorher gefragt“, berichtet Widad. „Ich habe klar gesagt, dass ich erst mein Studium abschließen und danach heiraten will. Als schließlich Rami um meine Hand angehalten hat, wusste ich sofort – der ist es!“ schwärmt sie.
„Ich habe in den Ehevertrag schreiben lassen, dass ich nach der Heirat und der Geburt der Kinder weiter berufstätig bleiben konnte. Außerdem haben wir festgelegt, dass wir in einer eigenen Wohnung leben und nicht im selben Haus wie meine Schwiegereltern.“ Diese Bedingungen akzeptierte ihr Zukünftiger. Widad lehnt arrangierte Ehen aber nicht rundheraus ab. Nicht jede Liebesehe führe zu einer glücklichen Familie, so ihr Fazit: „Ich habe Freunde, die als Cousins verheiratet wurden und die mit ihrem Leben zufrieden sind. Wichtig ist, dass man nicht gezwungen wird.“
Martina Sabra ist freie Journalistin und entwicklungspolitische Gutachterin.
martina.sabra@t-online.de
Literatur
El-Feki, S., 2013: Sex und die Zitadelle. Hanser Verlag.