Bosnien und Herzegowina

Wo Schweigen nicht Gold ist

An den Schauplätzen des Bosnienkrieges versammeln sich heute ehemalige Kriegsveteranen und Überlebende aus allen Konfliktparteien. Gemeinsam wollen sie ein Zeichen für Versöhnung und Gerechtigkeit setzen – in einem Land, das noch immer zerrissen ist.
Schild zur Markierung eines „ungekennzeichneten Ortes des Leidens“. Martina Rieken Schild zur Markierung eines „ungekennzeichneten Ortes des Leidens“.

Fast 30 Jahre nach seiner Freilassung betritt Marijan Krajina zum ersten Mal wieder die verlassene Lagerhalle in Kaćuni, einem kleinen Ort in der Gemeinde Busovača mitten in Bosnien und Herzegowina. 76 Tage war er während des Bürgerkriegs Anfang der 90er-Jahre in dem heruntergekommenen Gebäude gefangen. Marijan Krajina hat hier unvorstellbares Leid erfahren. Er und sein Sohn wurden als kroatische Zivilisten grundlos von bosniakischen Soldaten festgenommen. In dem alten Getreidelager in Kaćuni hat man sie brutal misshandelt. Sichtlich aufgewühlt berichtet Krajina von seinen Erlebnissen. „Das Schlimmste war, dass ich mit anhören musste, wie in der Zelle nebenan mein Sohn geschrien hat“, erinnert sich der ehemalige Grundschullehrer. Er habe nur noch sterben wollen. Es sind haarsträubende Geschichten, die an diesem unwirtlichen Ort zu hören sind. Und eigentlich wollte Marijan Krajina hier nie wieder herkommen.

„Aber ich habe es doch gemacht“, sagt er nach dem Verlassen seines ehemaligen Gefängnisses. Eine große Last scheint von ihm zu fallen. „Ich möchte, dass alle wissen, was hier geschehen ist. Ich möchte, dass sich so etwas Schreckliches nie wiederholt.“

Mit Krajina sind etwa 50 Menschen nach Kaćuni gekommen. Es sind Kriegsveteranen und Überlebende aller einstigen Konfliktparteien, die von Friedensaktivist*innen und lokalen und internationalen Journalist*innen begleitet werden. Der Besuch des ehemaligen Lagers in Kaćuni ist Teil einer Friedensaktion des Centre for Nonviolent Action (CNA), mit dem die Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion KURVE Wustrow im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) seit mehr als zwanzig Jahren in Bosnien und Herzegowina und in Serbien eng zusammenarbeitet.

Kaćuni ist neben Tarčin, Žepče, Derventa und Doboj eine von fünf Stationen, die an diesem Wochenende im März 2023 besucht werden. Die Teilnehmenden legen Rosen nieder, hören die entsetzlichen Geschichten, trauern und sprechen sich Mut zu. Und dann befestigen sie ein blaues Schild mit der Inschrift: „Ungekennzeichneter Ort des Leidens – an diesem Ort, im vergangenen Krieg, wurden unmenschliche Taten begangen. Wir wollen diese Ereignisse nicht dem Vergessen übergeben. Wir zeigen Solidarität mit den Opfern. Es soll sich nie wiederholen.“ CNA hat in der Vergangenheit bereits mehr als 130 solcher Orte gekennzeichnet. Die Markierungen zollen den Opfern und ihren Angehörigen Respekt und setzen zugleich ein sichtbares Zeichen für Gerechtigkeit, Versöhnung und Frieden.

Nachdem Marijan Krajina seine Erinnerungen geschildert hat, löst sich ein Mann aus der Menge. Es ist Edin Ramulić, Veteran der bosniakischen Armee, deren Soldaten Marijan Krajina an diesem Ort gequält haben. Er bittet ihn stellvertretend für sie um Entschuldigung. „Ich habe nicht gewusst, dass hier solche schrecklichen Dinge passiert sind“, sagt Ramulić später. „Marijan hat mich an meinen Vater erinnert, der Ähnliches erlebt hat. Ich bin der einzige männliche Überlebende meiner Familie. Ich habe die Schrecken des Kriegs als Soldat, als Gefangener, als Angehöriger erlebt. Gleich nach dem Krieg habe ich mich als Friedensaktivist engagiert.“

Fassungslosigkeit und Trauer

Bei der nächsten Station, im Dorf Tarčin, etwa dreißig Autominuten von Sarajevo entfernt, erinnert der Serbe Slobodan Mrkajić an sein Martyrium. Zwei Jahre hat er in insgesamt sechs Lagern verbracht. In Tarčin zogen ihm seine Peiniger mit Hufzangen Zähne. Die Verletzungen sind für immer sichtbar. Dass er die Torturen überlebt hat, grenzt an ein Wunder. Nach seiner Erzählung herrscht Schweigen. Viele der Anwesenden sind fassungslos, manche weinen. Gemeinsam heften die Menschen rote Rosen an den Zaun des ehemaligen Lagers.

„Wir kommen an diese Orte. Wir kommen in Frieden, um der Opfer des Kriegs zu gedenken und damit grenzübergreifend Solidarität zu zeigen. Ehemals verfeindete Veteranen und Überlebende setzen gemeinsam ein Zeichen für Versöhnung und Dialog“, sagt Nenad Vukosavljević, Mitgründer von CNA. „Sie erkennen an, dass auf allen Seiten schreckliches Leid geschehen ist.“

Die Friedensaktion von CNA und ZFD fördert eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die in Bosnien und Herzegowina selten, für eine friedliche Zukunft aber notwendig ist. Die Gesellschaft hat sich von den Gräueltaten des Kriegs bis heute nicht erholt.

Bosnien und Herzegowina war eine Teilrepublik Jugoslawiens und strebte die Unabhängigkeit an. Von 1991 bis 1995 bekämpften sich die drei größten ethnischen Gruppen des Landes auf das Blutigste. Viele bosnische Muslim*innen befürworteten einen unabhängigen Staat, während einige bosnische Serb*innen einen Anschluss an Serbien forderten und kroatische Bosnier*innen zu Kroatien gehören wollten. Die Verletzungen sitzen auf allen Seiten bis heute tief.

Gespaltene Gesellschaft

Bis heute leben die Menschen überwiegend ethnisch, religiös und räumlich voneinander getrennt. Selbst Kinder werden separat unterrichtet. Jede Gruppe pflegt ihre Version der Vergangenheit und bestreitet dabei häufig Kriegsverbrechen der eigenen Seite. Der Rest ist Schweigen. Dadurch halten sich die Feindbilder der jeweils „anderen“ und werden an die nächste Generation weitergegeben. Die Spaltung der Gesellschaft spiegelt sich auch in der Politik, die sich in vielen Fragen gegenseitig blockiert. So werden die Spannungen im Land weiter verschärft. Die Wirtschaft schwächt sich selbst durch komplizierte Regulierungen und weitverbreitete Korruption. All das führt auch dazu, dass vor allem immer mehr junge Menschen auswandern.

Die letzte Station der Friedensaktion ist die eiserne Brücke über dem Fluss Bosna am Stadtrand von Doboj im Nordosten von Bosnien und Herzegowina. Hier wurden im Juni 1992 13 Zivilisten grundlos erschossen. Ihre toten Körper warf man in die Bosna. Es gibt keine Überlebenden, die davon erzählen können. Umso wichtiger ist, dass die Erinnerung aufrechterhalten wird.

Nach Abschluss des Treffens wenden sich die Teilnehmenden der Aktion mit einem emotionalen Appell in verschiedenen europäischen Medien an die Öffentlichkeit. Darin heißt es: „In der tiefen Überzeugung, dass alle Opfer den gleichen Respekt verdienen, wollen wir mit unserem gemeinsamen Besuch von Orten des Leidens den Schmerz teilen und uns gegenseitig ermutigen und unterstützen.“ Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen warnen sie vor den tragischen Folgen eines Kriegs und werben für Verständigung. „Ohne unsere Unterschiede zu verleugnen, glauben wir, dass gegenseitiger Respekt und Verständnis einen Raum für Dialog schaffen können, in dem wir einander mit offenem Herzen zuhören (…) können“, heißt es in der Erklärung. „Wir glauben, dass unser Recht auf Freiheit und Frieden nur durch Zusammenarbeit, durch die Überwindung der Grenzen, die uns seit dem Krieg trennen, und durch das Lernen aus unserer schmerzhaften Vergangenheit erreicht werden kann.“

Dass ehemals verfeindete Menschen sich an Orten von Kriegsverbrechen die Hand reichen können, zeigt, dass ein Weg in Richtung Versöhnung möglich ist, so steinig er auch sein mag. „Es hilft uns, miteinander über das Geschehene zu reden“, sagt einer der Veteranen, „aber sie wollen nicht, dass wir hier zusammen sind“. Er meint damit die Politik. Von den eingeladenen lokalen Politiker*innen ist niemand erschienen. Die Friedensaktionen von CNA werden toleriert, aber nicht unterstützt.

Wenige Wochen nach der Aktion geht eine Beschwerde bei CNA ein. Fünf Vereine aus Busovača behaupten darin, dass in Kaćuni kein Lager existiert habe, in dem Menschen zu Schaden gekommen seien, aber an anderen Orten in der Gemeinde habe es Folter und Mord gegen Bosniak*innen gegeben. CNA reagierte mit dem Hinweis auf bestehende Opferaussagen und dem Angebot eines Gesprächs, bei dem auch geklärt werden könne, welche unmarkierten Orte des Leidens die Verfasser*innen der Beschwerde gerne kennzeichnen wollen. Nur im Dialog, so die Überzeugung von CNA, können solche Ressentiments ausgeräumt werden.

CNA setzt sich seit 1997 für die Aufarbeitung der Vergangenheit und den Dialog zwischen den Bevölkerungsgruppen ein. In den beiden Büros in Sarajevo und Belgrad arbeiten insgesamt elf Kolleg*innen in multiethnischen Teams, darunter zwei Fachkräfte des ZFD. Es geht darum, Erlebtes zu verarbeiten, Versöhnung zu erlangen und eine integrative Erinnerungskultur zu entwickeln. Und die braucht es, damit die Vorstellung von einem gemeinsamen Staat überhaupt entstehen kann. Neben den Gedenkaktionen arbeitet CNA daran, die gesammelten Erkenntnisse systematisch zu dokumentieren, zu erforschen und regelmäßig in Büchern, Ausstellungen, Websites und Seminaren öffentlich zu machen.

Links
https://onms.nenasilje.org
https://www.ziviler-friedensdienst.org

Martina Rieken ist Koordinatorin für Öffentlichkeitsarbeit beim Konsortium Ziviler Friedensdienst (ZFD).
rieken@ziviler-friedensdienst.org