Frieden schaffen

Bomben reichen nicht

Infolge blutiger Konflikte in Libyen und Syrien streiten sich Völkerrechtler, Friedensforscher und Politiker erneut darüber, wann „Responsibility to Protect“ (R2P) zu welchen zivilen oder militärischen Eingriffen berechtigt.

Von Peter Hauff

Das Konzept der Schutzverantwortung beruht auf dem multilateralen Beschluss, dass jeder Staat verpflichtet ist, seine Bürger vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bewahren. Kann oder will eine Regierung ihre Bevölkerung nicht schützen, ist die internationale Gemeinschaft berechtigt, notfalls mit Waffen einzugreifen. Dieses Prinzip akzeptierte die UN-Generalversammlung 2005. Welche Maßnahmen Frieden erzwingen sollen, muss jeweils der UN-Sicherheitsrat entscheiden.

Das Konzept der Schutzverantwortung entstand infolge gescheiterter Friedensmissionen in Ruanda und Bosnien. In den 1990er Jahren sahen UN-Blauhelme tatenlos zu, wie Bürger vor ihren Augen abgeschlachtet wurden. Ihr Mandat forderte nicht ausdrücklich den Schutz der Bevölkerung. Trotz der internationalen Übereinkunft im Jahr 2005 streiten Politiker und Wissenschaftler bis heute, wann Schutzverantwortung beginnt und welche Maßnahmen daraus abgeleitet werden dürfen. Verbalen Warnungen folgt nur selten entschlossenes Handeln.

In seiner Resolution 1973 vom März 2011 billigte der UN-Sicherheitsrat immerhin den Libyen-Einsatz. Die USA, Kanada, Britannien und Frankreich wurden ermächtigt, zum Schutz libyscher Bürger auch Düsenjäger und Kriegsschiffe zu schicken. Damit schalteten sie Libyens Luftwaffe aus und halfen Aufständischen letztlich mit Waffen zum Sieg. Die Resolution war ein Fehler, meinte mancher Teilnehmer einer Tagung über „Angriffsverbot versus Schutzverantwortung“ in der Evangelischen Akademie Loccum Anfang Juni.

Der Erfolg in Libyen sei durchwachsen, sagte Lawrence C. Moss von Human Rights Watch und verwies auf marodierende ehemalige Söldner des gestürzten Diktators Muamar Gaddafi in Libyens Nachbarländern Mali und Niger sowie auf Waffenlager, die kein souveräner Staat kontrolliert. Moss fordert, Staatsverbrechen müssten strenger verfolgt werden. Zu oft blieben Verantwortliche unbehelligt, weil beispielsweise auf Anzeigen von Polizeifolter keine amtliche Untersuchung folgt.

Strittiger Gerichtsstand

Internationale Strafverfolgung hat Lücken: Im Vorfeld eines Prozesses gegen Laurent Gbagbo, den abgewählten Präsidenten in Côte d’Ivoire, sprechen dessen Unterstützer von Siegerjustiz des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, ­solange der heutige Präsident Alassane Ouattara unbehelligt bleibe. Dessen Seite werden ebenfalls schwere Verletzungen der Menschenrechte angelastet. Das internationale Verfahren gegen Gbagbo wird auch von zivilen Gruppen kritisch begleitet: So sprach Human Rights Watch (HRW) zum Auftakt des Prozesses in Den Haag im Juni von „einseitiger Justiz“.

Derweil streiten Libyen und der IStGH seit Monaten darüber, wer über Gaddafis Sohn Saif al-Islam Gericht halten soll. Die Übergangsregierung in Tripolis will ihm im eigenen Land den Prozess machen. Derzeit ist er in der Gewalt lokaler Clans, die ihn weder an Tripolis noch an den IStGH ausliefern wollen. Ihnen dient der 39-Jährige als Faustpfand gegen demokratisch noch nicht legitimierte Machthaber. Die Stammesobersten sagen, Saif al-Islam werde nicht ausgeliefert, um ihm das Schicksal seines gelynchten Vaters zu ersparen.

Islamische Rechtsvorstellungen passen nicht unbedingt zu westlichen Demokratieprinzipien, sagt Yves Boyer von der Pariser Fondation pour la Recherche Stratégique (FRS). Zudem hänge Chinas Stimme im Sicherheitsrat oft von Wirtschaftsinteressen ab, weniger von Erwägungen über Menschenrechte. Der Pariser Verteidigungsexperte meint, R2P werde nicht wieder zu Militäreinsätzen von der libyschen Dimension führen. Erstens sei das Konzept nicht universell anerkannt, zweitens seien Europas militärische Möglichkeiten begrenzt. Der FRS-Experte argumentiert mit nationalen Interessen: „Wir sollten intervenieren, wenn ein euro­päisches Interesse besteht, nicht weil die USA es fordern, und sollten zu einer na­tionalen Außenpolitik stehen, wie sie im EU-Vertrag von Lissabon festgelegt ist.“

Dringend empfiehlt Boyer, lokale Akteure stärker wahrzunehmen. Außerdem zeige das Beispiel Afghanistan, dass intervenierende Truppen von Anfang an eine klare Exitstrategie brauchen.

Militärschlag zu kurz gegriffen

Eigentlich beruht das Konzept der Schutzverantwortung nicht nur auf Militärschlägen, sondern ausdrücklich auch auf Prävention und Wiederaufbau. Manchmal ist aber schnelles Handeln gefragt. Mit dem arabischen Frühling und gewalttätiger ­Repression in verschiedenen arabischen Ländern hatte die Weltgemeinschaft nicht gerechnet. Wenn sich die Vetomächte im UN-Sicherheitsrat (USA, Frankreich, Großbritannien, Russland und China) nicht einigen können, schaut die Staatengemeinschaft mörderischen Regimen tatenlos zu – wie derzeit dem in Syrien.

Brasiliens Regierung schlug kürzlich vor, Schutzverantwortung auf eine „Re­sponsibility While Protecting“ zu erweitern. Im Kern geht es darum, dass der Sicherheitsrat militärische Gewalt nur unter sehr strikten Auflagen – etwa zeitlich sehr knapp beschränkt – erlaubt und seine Politik laufend überprüft. So hätte verhindert werden können, dass NATO-Streitkräfte am Ende der Intervention in Libyen die Aufständischen direkt unterstützten.

In der internationalen Debatte über R2P wird betont, zivile oder militärische Zwangsmittel müssten auf jeden Fall angemessen, redlich, notwendig und vorausblickend sein. „Die Diskussion solcher Fragen ist unglaublich weit fortgeschritten“, sagt Christian Schwarz-Schilling. Der 81-jährige CDU-Politiker war 2006 und 2007 der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina für die Überwachung des Friedensabkommens von Dayton.

Dieses Abkommen von 1995 war, so meint Schwarz-Schilling rückblickend, ungenügend – unter anderem, weil am Verhandlungstisch auch Kriegsverbrecher saßen: „Politiker an Schreibtischen und in Parlamenten sind unfähig, sich Situationen auszumalen, die plötzlich vor Ort entstehen.“ Verträge allein bringen keinen Frieden, warnt Deutschlands früherer Postminister. Oft werde unterschätzt, wie viel Zeit eine vereinbarte Polizei- und Verfassungsreform kostet (siehe auch Beitrag über die DR Kongo auf S. 270).

Dass Panzer und Dokumente nicht reichen, betonte auch Natalia Ablova vom Büro für Menschenrechte in Bischkek. Schulen könnten ebenfalls Frieden schaffen, erklärte sie: Nach blutigen Zusammenstößen feindlicher Volksgruppen aus Kirgistan vor zwei Jahren habe Unterricht im folgenden September Kindern und Eltern ein Gefühl des Alltags gegeben, das Versöhnung erst ermöglicht – es helfe Traumata zu lösen, statt sie auszublenden.

Peter Hauff