Libanon
Fehlende politische Reformen
Die Journalistin Dalal Al-Bizri hat den Glauben an einen politischen Wandel im Libanon verloren. Im Frühjahr 2011, als es in vielen arabischen Ländern brodelte, war das noch anders. Nicht nur in Tunesien und Ägypten gingen Tausende Menschen auf die Straße, sondern auch in Beirut.
Dalal Al-Bizri war dabei: „Ich hatte die große Illusion, wir könnten etwas bewegen.“ Im Libanon forderten die Demonstranten, dass der Einfluss der Religion auf Politik und Recht zurückgedrängt wird. Eine Reform des Wahlrechts sollte säkularen Kräften eine Chance geben, ins Parlament einzuziehen und die Vorherrschaft der alteingesessenen religiösen und politischen Eliten brechen.
Rolle der Religionsgemeinschaften
Religion bedeutet im Libanon viel mehr, als nur in einen Glauben hineingeboren zu werden und die Rituale einer Religionsgemeinschaft zu praktizieren. Im Zedernstaat existiert kein ziviles Personenstandsrecht. Die Angehörigen der verschiedenen Konfessionen müssen alles, was mit Heirat, Erbrecht oder Scheidung zu tun hat, nach den religiösen Gesetzen ihrer jeweiligen Gemeinschaft regeln. Sunnit, Schiit, orthodoxer oder maronitischer Christ zu sein heißt, auch Teil eines politischen, sozialen und wirtschaftlichen Netzwerks zu sein.
Religionsgemeinschaften im Libanon übernehmen die Aufgaben des Staates. Sie unterhalten Schulen und Krankenhäuser, vergeben Stipendien, unterstützen sozial Schwache, helfen bei der Arbeitssuche oder schaffen Arbeitsplätze. Auch die Medien werden von den verschiedenen politisch-religiösen Strömungen finanziert und kontrolliert. Die politischen Führer im Staat, die für ihre Religionsgemeinschaft ins Parlament gewählt werden, sind mit Feudalherren vergleichbar.
Jawad Adra vom Meinungsforschungsinstitut Information International in Beirut beschreibt die Libanesen als Geiseln ihrer politischen Führer: „Sie wurden gefangen genommen und haben sich in ihre Entführer verliebt.“ Die Führer verfügen über Ressourcen, die der Staat nicht hat, und bieten diese als Gegenleistung für Loyalität an. Das zweite Fundament ihrer Macht sei die Angstmacherei, meint Adra: „Die Führer schüren Angst vor den anderen Konfessionen und bieten sich zugleich als Beschützer ihrer eigenen Gemeinschaft an.“
Arabischer Frühling in Beirut
Adra schätzt, dass gut ein Drittel der Libanesen aus allen Religionsgemeinschaften das konfessionelle System am liebsten abschaffen oder reformieren würde. Diese Menschen glauben seiner Einschätzung nach nun nicht mehr daran, dass es einen Systemwechsel geben wird.
2011 hatten viele Libanesen bei Demonstrationen die Einführung eines zivilen Personenstandsrechts gefordert, um das herrschende konfessionelle System zu ändern. Denn es entfache immer wieder die Spannungen zwischen den religiösen Gemeinschaften, zementiere die Abschottung und bereite den Boden für gewalttätige Auseinandersetzungen.
Die Proteste schliefen allerdings mit der Zeit ein und blieben wirkungslos. Es war vielen Libanesen wohl doch zu riskant, sich für politische Reformen oder die Abschaffung eines jahrzehntelang bestehenden Systems einzusetzen . Viele Bürger befürchteten, dass Veränderungen das Land ins Chaos stürzen würden und zu mehr Gewalt oder sogar einem neuen Bürgerkrieg führen könnten.
Denn der Libanon hat bereits 15 Jahre Bürgerkrieg (1975 bis 1990) hinter sich, der rund 150 000 Opfer forderte, die meisten davon Zivilisten. Die Gründe für den Ausbruch waren vielfältig: soziale Spannungen, die politischen und militärischen Aktivitäten der Palästinenser im Libanon sowie regionale Einflüsse. Der Krieg prägt das Land bis heute. Viele der Kriegsherren von damals sitzen im Parlament. Obwohl die Fronten nicht immer entlang der religiösen Zugehörigkeiten verliefen, hat der Bürgerkrieg tiefe Gräben in der Bevölkerung hinterlassen. Gemischtreligiöse Wohnviertel haben deutlich abgenommen, ebenso gemischtreligiöse Ehen .
Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten
Heute führt der Krieg im Nachbarland Syrien zu neuen Spannungen zwischen den religiösen Gemeinschaften im Libanon (siehe Kasten). Immer wieder flammen gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen schiitischen und sunnitischen Libanesen auf, zwischen Dörfern in der Bekaa-Ebene im Osten des Landes oder zwischen sunnitischen und alawitischen Stadtteilen in Tripoli im Norden. 2013 und 2014 erschütterten mehrere Bomben- und Selbstmordanschläge Städte im ganzen Land. Dabei kamen mehr als 150 Menschen ums Leben. Die Attentäter, radikalisierte Sunniten und Schiiten, tragen den Kampf, der im Nachbarland tobt, in ihre Heimat.
Asharaf Haidar lebt in Tarik Al-Jadida, einem Stadtteil in Beirut, der vorwiegend von Sunniten bewohnt wird. Er drückt das aus, was viele Libanesen beunruhigt: „Wir haben Angst, dass die Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten im Libanon eskalieren könnten.“ Die Hetze der libanesischen Politiker sei schuld an der Situation. Am Rande von Tarik Al-Jadida stehen Panzer der libanesischen Armee. Sie sollen verhindern, dass aufgebrachte junge Sunniten mit Schiiten aus dem Nachbarstadtteil aneinandergeraten.
Der 77-jährige Mohammed Sammak ist Generalsekretär der Islamischen Spirituellen Vereinigung, die Sunniten, Schiiten, Drusen und Alawiten umfasst. Die Vereinigung versucht, bei Gewalt zwischen Muslimen verschiedener Konfessionen zu vermitteln. Sammak sieht die sunnitisch-schiitischen Spannungen nicht als religiösen Fanatismus der Menschen: „Es ist ein parteigebundener, ein politischer Fanatismus, der sich da äußert.“ Was im Libanon gerade passiere, sei ein Spiegel der politischen Lage in der Region. „Angenommen, morgen würde ein Treffen zwischen dem Iran, Saudi-Arabien und anderen Ländern des Arabischen Golfes stattfinden, dann würden wir sofort hier im Libanon eine Entspannung der Lage beobachten.“
Theologen als Vermittler
Dieser Analyse stimmt auch der bekannte schiitische Theologe Ali Fadlallah zu: „Es ist verständlich, dass Libanesen mit der Seite sympathisieren, der sie religiös nahestehen. Von uns Religionsgelehrten ist gerade in dieser Situation gefordert, die Menschen zu beruhigen.“
Der 56-Jährige predigt jeden Freitag in der Hassanain-Moschee in Harat Hreik, im Süden Beiruts. In den südlichen Vororten der Hauptstadt leben mehrheitlich Schiiten. Viele sympathisieren mit der Hisbollah. Wenn die syrische Armee Siege gegen die bewaffneten Aufständischen in Syrien erringt, dann kommt es in den Vororten zu Freudenschüssen, und auf der Straße werden Süßigkeiten verteilt. Junge Männer aus diesen Vierteln ziehen nach Syrien in den Krieg. Dies hält Theologe Fadlallah nicht für den richtigen Weg und rät: „Wir müssen so schnell wie möglich einen Dialog führen und sollten nicht noch Öl ins Feuer gießen.“
Sein Kollege Mohammed Sammak wirkt resigniert und hält die Aktivitäten der Religionsvertreter selbstkritisch für nicht wirkungsvoll genug: „Wenn das reichen würde, wären wir jetzt in einer besseren Situation. Aber wir haben schließlich nur das Wort. Wir können nur an den Verstand der Menschen appellieren.“
Mona Naggar ist Journalistin und Medientrainerin. Sie lebt in Beirut.
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