Hochschulen

Bildung nicht dem Markt überlassen

In Chile geht die junge Generation wütend auf die Straße, weil das Bildungssystem Ungleichheit produziert und verstärkt. Die Studenten fordern, dass die Regierung etwas dagegen unternimmt.
Two protesters hold a Chilean flag with the slogan “free education” (in Spanish) in Santiago in June 2016. Gomez/picture-alliance /NurPhoto Two protesters hold a Chilean flag with the slogan “free education” (in Spanish) in Santiago in June 2016.

Chiles Jugend zeigt sich schon lange frustriert über das Bildungssystem. Vor zehn Jahren protestierten die Gymnasiasten vehement, und 2011 sah das Land eine weitere Welle von Protesten. In demselben Jahr erblühte der arabische Frühling, die „Indignados“ rüttelten Spanien auf und die „Occupy Wall Street“-Bewegung breitete sich ausgehend von New York aus.

 

  • Zwölf Jahre Schulbesuch sind Pflicht in Chile. Es gibt drei Arten von Schulen:
  • öffentliche Schulen (colegio municipal), die staatlich geführt werden und kostenlos sind,
  • subventionierte Privatschulen (colegio particular subvencionado), die privat geführt werden, aber staatliche Subventionen erhalten und deswegen niedrige Schulgebühren verlangen, und
  • vollständige Privatschulen (colegio particular), die sehr hohe Schulgebühren kassieren.

Das große Problem ist die unterschiedliche Qualität. Nach Recherchen der Universität von Chile erzielen Schüler von privaten Schulen in der Regel bessere Ergebnisse bei den Uni-Aufnahmeprüfungen. Diese Resultate sind sehr wichtig. Um eine gute Universität besuchen zu können und Zugang zu Stipendien zu bekommen, braucht man gute Noten. Und nach dem Universitätsabschluss hängen die Jobangebote davon ab, ob man eine Universität mit gutem Ruf besucht hat.

2011 riefen die protestierenden Studenten: „Weg mit der Pinochet-Ausbildung!“ Sie bezogen sich auf den Militärdiktator, der das Land nach einem blutigen Putsch im Jahr 1973 fast drei Jahrzehnte lang regierte. Sein rechtsgerichtetes Regime beschnitt stark die Gelder für öffentliche Bildung und bevorzugte private Bildungseinrichtungen. Schon sehr bald darauf waren die öffentlichen Schulen in einem schlechten Zustand. Die Schere zwischen Schülern, deren Eltern sich Privatschulen leisten konnten, und denen, die das nicht konnten, öffnete sich. Diese Kluft schloss sich nicht mehr. 1990 wurde die Demokratie wieder eingeführt, aber Pinochets marktradikale Ideologie hatte das Land verändert. Das soll anders werden, fordern junge Leute heute.

Laut OECD-Statistiken ist Chile derzeit das Mitgliedsland mit der höchsten Einkommensungleichheit. Das Einkommen der reichsten zehn Prozent ist 26 Mal höher als das der ärmsten zehn Prozent. Denjenigen, die keine hohen Schulgebühren bezahlen können, ist das grundlegende Recht zum Zugang zu guter Bildung verwehrt, weil die Regeln des Marktes greifen. Schulgebühren sind für chilenische Eltern eine enorme Bürde.


Verschuldung wegen Studienkrediten

Auch ein Hochschulstudium in Chile ist teuer. Der Durchschnitt der 15 höchsten Studiengebühren, die in Chiles besten Privatuniversitäten gefordert werden, liegt bei 5900 Dollar pro Jahr. Deswegen benötigen viele Studenten einen Bankkredit. Öffentliche Universitäten sind billiger, aber nicht so gut.

Seit 2005 gibt es ein Programm, um Studenten zu helfen, die Studiengebühren zu bezahlen. Es heißt „Crédito con Aval del Estado“ (CAE). Es unterstützt Studentenkredite durch staatliche Bürgschaften. Aber die Kredite müssen natürlich zurückgezahlt werden, und die Zinsen sind hoch. Laut der zivilgesellschaftlichen Stiftung Fundación Sol, die Finanz- und Arbeitsweltthemen erforscht, funktioniert dieses System allenfalls finanziell. Die Stiftung sieht es beispielsweise als Problem, dass die Banken das jetzige und zukünftige Leben der Studenten, die sich verschulden, kontrollieren. Nach ihrem Abschluss, wenn sie nach ihrem ersten Job suchen, müssen die jungen Leute diese Schulden sofort abzahlen.

Laut Fundación Sol hat sich die Zahl der Studenten zwischen 2005 und 2015 auf nunmehr 1,2 Millionen Studenten fast verdoppelt. Aber die Stiftung kritisiert, dass die „Privatisierung des höheren Bildungssystems weiter fortschreitet“. Chiles Bildungssystem hat viele Fallen. Claudia Barrientos beispielsweise hatte keine guten Noten bei der Aufnahmeprüfung für die Universität und musste sich deswegen in einer Privatuniversität einschreiben. Ihre Mutter unterschrieb als Bürge. Aber kurz nachdem das Mädchen das Studium begonnen hatte, verlor die Mutter ihre Arbeit.

„Ich musste die Universität verlassen, weil ich die Studiengebühren nicht mehr zahlen konnte“, erzählt Barrientos. „Obwohl ich nur drei Monate studiert hatte, musste ich Gebühren für ein ganzes Jahr bezahlen.” Monate später schuldet sie der Universität immer noch umgerechnet 740 Dollar.

Francisca Muñoz ist 20 Jahre alt und möchte studieren, ebenso wie ihre Schwester. „Die Ergebnisse meiner Aufnahmeprüfung waren nicht gut genug, um ein Stipendium zu bekommen“, sagt sie. „Meine Schwester studiert bereits, und meine Eltern können nicht die Gebühren für uns beide bezahlen.“ Frustriert erklärt sie: „Ich arbeite jetzt und versuche Geld zu sparen, so dass ich mich 2018 vielleicht an der Uni einschreiben kann.“

Recaredo Gálvez ist der frühere Präsident der Studentengewerkschaft „Federación de Estudiantes de la Universidad de Concepción“. Seiner Ansicht nach kommen junge Leute in einen Teufelskreis, wenn sie ihr Studium mit einem Kredit bezahlen: „Laut dem Nationalen Institut für Statistik verdiente 2015 die Hälfte aller arbeitenden Chilenen nicht mehr als 523 Dollar pro Monat. Mit einem derart niedrigen Einkommen kann man keinen Ausbildungskredit zurückzahlen.“ 4 Millionen von den 11 Millionen Menschen, die solch einen Kredit zurückzahlen, seien damit im Rückstand. „In einem Land, wo so viele Menschen nur eine prekäre Arbeit haben, kann so ein System nicht funktionieren“, meint Gálvez.

 

Forderung nach öffentlicher Bildung

Das Bildungsministerium sieht es als seine Aufgabe, „gute kostenlose Bildung für alle Bürger sicherzustellen sowie soziale Inklusion und Chancengleichheit zu fördern“. Diese Versprechen erfüllt es jedoch nicht. Tatsächlich werden schlechte Schulen mit Steuergeldern finanziert, während nur Wohlhabende ihre Kinder zu guten privaten Schulen schicken können.

Anwalt Fernando Atria hat das Bildungssystem untersucht. Sein Fazit: „Die Bewegung von 2011 zeigte klar, dass Bildung nicht wie andere Güter verkauft werden kann. Sie darf nicht entsprechend der Kaufkraft verteilt werden, denn das führt zu Ungleichheit.“ Atria befürwortet die Forderung der Studenten, von einem marktbasierten System zu einem System der sozialen Rechte zu wechseln.

Gabriel Boric ist ein früherer Studentenführer, der 2013 in den Congreso Nacional, das nationale Parlament, gewählt wurde. „Der Kongress ist ein hermetischer Ort“, behauptet Boric. „Die wirtschaftlich starken Gruppen bestimmen alles, über Parteigrenzen hinweg.“ Er sagt, er habe nur wenige Verbündete – so etwa drei andere frühere Studentenführer: „Wir wollen nicht, dass die Ungleichheit in Chile sich immer weiter reproduziert.“

Der Soziologe Alberto Mayol hingegen beanstandet, das politische System habe bisher kaum auf die wiederkehrenden Studentenproteste reagiert. Studenten organisieren regelmäßig Demonstrationen und fordern eine Bildung, die von guter Qualität und kostenlos und nicht nur am Gewinn orientiert ist. „Diese Demonstrationen sind ein Zeichen sozialer Probleme“, sagt Mayol. „Mein Eindruck ist jedoch, dass dies den Machthabern nicht klar ist.“ Seiner Ansicht nach sperren sich die Eliten gegen eine Veränderung. Es sollte bald etwas geschehen, sagt er, sonst „können wir uns auf die nächste Studentenrevolte gefasst machen“.

 

Javier Cisterna Figueroa ist Journalist und lebt in Concepción, Chile. cisternafigueroa@gmail.com