Editorial

Diskursive Präzision

Ob etwas gut oder schlecht läuft, hängt immer von der Perspektive des Beobachters ab. Gesellschaften sind vielschichtige Systeme. Es ist unmöglich, politische Gegebenheiten irgendwie „objektiv“ zu bewerten. Diese alte Einsicht plagt die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften seit jeher.

Dennoch ist die Frage nach der Wirkung der Entwicklungspolitik berechtigt. Rund 100 Milliarden Dollar geben die reichen Nationen im Jahr für öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) aus. Ihre Regierungen haben versprochen, das Volumen zu steigern. Sie müssen belegen, dass der Aufwand sinnvoll ist.

Wichtiger noch: Geber- und Empfängerregierungen haben sich auf den multilateralen Aid-Effectiveness-Konferenzen in Paris und Accra zu „Management for Results“ verpflichtet. Zu Recht. Da es wirklich keinen Sinn hat, immer nur den ODA-Input zu messen, müssen Ergebnisse die Richtschnur weiteren Handelns sein. Also ist zu klären, wie Politik wirkt – und wer das mit welchen Methoden misst.

In fest etablierten Demokratien wird Politikwirkung permanent evaluiert. Der gesellschaftliche Diskurs hört nie auf. Jede Regierung wird ständig beobachtet und bewertet – auf Marktplätzen und in Kneipen, unter Nachbarn und Kollegen, in Massenmedien und akademischen Studien. Nie sind alle einer Meinung, und je umfangreicher und vielfältiger der Input ist, umso besser. Das ist die Basis für vergleichsweise schmerzloses gesellschaftliches Lernen, bei dem Mehrheiten sich durchsetzen, ohne Minderheiten zu unterdrücken.

In reichen Nationen gibt es keinen Mangel an Instituten und Interessenverbänden, die mit fundierten Analysen öffentliche Debatten bereichern und Kontroversen austragen. Das hilft, sinnvolle, pragmatische Kompromisse zu schließen, wo völliger Konsens nicht möglich ist. In Entwicklungsländern ist die Informations- und Datenlage dagegen sehr viel schlechter. Dort wird weniger soziopolitisch relevantes Wissen generiert und ausgetauscht. Beides ist aber wichtig, damit eine Gesellschaft sich als Einheit versteht und gemeinsam vorankommen kann. Dass autoritäre Denkmuster solche Diskurse be- und sogar verhindern können, ist offensichtlich.

Die Geberinstitutionen betreiben seit langem Monitoring und Evaluierung und verfügen deshalb über Wissen mit hoher praktischer Relevanz für die Mei­nungsbildung und sogar das Nation-Building in armen Ländern. Sie sollten möglichst viel davon zugänglich machen – und zwar in Sprachen, die dort verstanden werden. So stimulieren und unterstützen sie konstruktive Debatten.

Es ist absurd, dass bilaterale Geberinstitutionen nach wie vor darüber klagen, die Weltbank säße auf Studien und rücke sie nicht heraus. Es ist kontraproduktiv, dass verschiedene Geberorganisationen Erfahrungen und Wissen nicht sys­te­ma­tischer austauschen. Besonders ärgerlich ist aber, dass ihre Analysen kaum in die innenpolitische Auseinandersetzung der betroffenen Länder einfließen.

Das Gelingen von Reformen hängt immer davon ab, wie sich unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte aufeinander einstellen und ihre Interessen austarieren. Konflikte über Prioritäten, Ressourcen und Vorgehensweisen sind unausweichlich – und gestritten wird entsprechend auch über die Auswirkungen von Politik. Wichtig ist vor allem, dass das qualifiziert und kompetent dort ge­schieht, wo die Effekte erzielt werden sollen. Quasi-natur­wissen­schaft­liche Prä­­zi­­sion der Messinstrumente ist dagegen weder nötig noch möglich.

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