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Gesundheitsversorgung

Überlastetes System

Brasiliens öffentliches Gesundheitssystem hat in der Vergangenheit gezeigt, dass es ein umfassendes nationales Impfprogramm auf den Weg bringen kann. Bei der Einführung des Covid-19-Impfstoffs stößt es aber an seine Grenzen.
Temporäres Covid-19-Krankenhaus in São Paulo. Gustavo Basso/picture-alliance/NurPhoto Temporäres Covid-19-Krankenhaus in São Paulo.

Noch vor rund 10 Jahren war Brasilien weltweit führend in der Bevölkerungsimmunisierung gegen ein tödliches Virus. Auf dem Höhepunkt der H1N1-Pandemie (Schweinegrippe) im Jahr 2010 impfte Brasilien mehr als 100 Millionen Menschen, davon 80 Millionen in nur drei Monaten. Brasilien impfte mehr Menschen als jedes andere Land, so Brasil de Fato („Die Wirklichkeit von Brasilien“), eine linksgerichtete Online-Zeitung.

Heute ist Brasilien – wie viele andere Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen – ein Impfnachzügler mit langsamem und nicht stringentem Covid-19-Impfprogramm. Präsident Jair Bolsonaros bekannte Corona-Skepsis trug zur niedrigen Impfrate bei. Seit Beginn der Pandemie verzeichnete Brasilien 11,2 Millionen Coronavirus-Fälle und mehr als 280 000 Todesfälle, so Giuliano Russo von der Queen Mary University of London und Mário Scheffer von der Universidade de São Paulo in einem Ende März veröffentlichten Artikel des Queen Mary Global Policy Institute.

Brasilien hat nach wie vor alle Ressourcen, die es weltweit führend in H1N1-Impfmaßnahmen gemacht haben. Sein einheitliches Gesundheitssystem (Sistema Único de Saúde – SUS) erreicht alle Ecken des Landes und ist für Patienten kostenlos. Das Nationale Impfprogramm, die Impfabteilung der SUS, hat Erfahrung mit landesweiten Impfkampagnen. Wissenschaftler und Labore können Impfstoffe in großen Mengen entwickeln und produzieren.

Daher „sollte sich Brasilien bei der Einführung des Covid-19-Impfstoffs von anderen Ländern mit mittlerem Einkommen unterscheiden“, meinen Russo und Scheffer. Stattdessen haben sich „neue, infektiösere Covid-19-Varianten in 17 der 27 brasilianischen Bundesstaaten etabliert und bedrohen vor allem die gefährdetsten indigenen Bundesstaaten Brasiliens. Sie bringen das nationale Gesundheitswesen an den Rand des Zusammenbruchs.“

Die Einführung des Covid-19-Impfstoffs ist einer der wenigen Bereiche, in dem Brasiliens öffentliches Gesundheitssystem es nicht schafft, seine Bürger mit nötigen Medikamente oder Impfstoffen zu versorgen. Größtenteils überwacht das SUS die Verteilung zahlreicher Medikamenten über sein riesiges Netzwerk, das die meisten Teile Brasiliens erreicht. Es ist aber, dort wo es am meisten gebraucht wird, in den städtischen Slums und indigenen Gemeinden, am schwächsten.

Um die Covid-19-Impfraten zu erhöhen, hat das Gesundheitsministerium Gemeindezentren in oder in der Nähe der Armenviertel, der sogenannten Favelas, eingerichtet. Diese Zentren sind essenziell, um gefährdete Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Einige Favela-Interessengruppen wollen aber, dass das Gesundheitsministerium mehr tut. Im Februar starteten mehrere Gruppen in Rio de Janeiro die Kampagne „Vacina Pra Favela, Já!“ („Impfstoffe für Favelas, jetzt!“) und forderten die Behörden auf, Favela-Bewohner vorrangig zu impfen.

Für viele Favela-Bewohner sind weniger die fehlenden Impfstoffe, sondern die schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen das Problem. Viele arbeiten trotz Infektionsrisiko weiter. „Jeden Tag wache ich um 5 Uhr morgens auf und habe kein sauberes Wasser zum Waschen“, sagt Bewohnerin Dona Maria de Lourdes, die als Hausangestellte arbeitet. „Ich steige in einen überfüllten Bus, und es gibt nirgendwo soziale Distanz. Aber was kann ich tun? Entweder ich arbeite weiter und sterbe an dieser Krankheit oder ich verhungere.“


Ein weites Netzwerk

Das SUS ist zwar für die Versorgung mit Medikamenten und Impfstoffen zuständig, kann aber nicht direkt bestimmen, wer vorrangigen Zugang bekommt. Das Gesundheitsministerium kauft die Medikamente zentral ein und verteilt sie an die Bundesstaaten, die zusammen mit den Gemeinden für die Lieferung an Einzelpersonen verantwortlich sind.

Zudem ist das SUS für alle Gesundheitsthemen über Covid-19 hinaus verantwortlich. Es betreibt – gemessen an der Zahl der Leistungsempfänger, der Fläche und der Größe des Netzwerks – das größte staatliche Gesundheitssystem der Welt. Jährlich werden mehr als 2,8 Milliarden Konsultationen durchgeführt, wobei die Leistungen von einfachen ambulanten Eingriffen bis hin zu komplexen Organtransplantationen reichen.

Bei einem Unterfangen dieser Größe gibt es zwangsläufig Probleme bei der Leistungserbringung. Verarmte Bevölkerungsgruppen und indigene Gruppen haben einen durchschnittlich schlechteren Zugang, wie aktuell bei den Covid-19-Impfung zu sehen ist.

Das SUS will die Leistungen für benachteiligte Gebiete verbessern. Beispielsweise können bis zu 15 Prozent der an die Bundesstaaten und Gemeinden überwiesenen Mittel genutzt werden, um SUS-Einrichtungen als Verteilungs- und Impfzentren in unterversorgten Gebieten umzuwidmen.

Das SUS finanziert auch die Verteilung von Medikamenten zur Bekämpfung anderer wichtiger Krankheiten in benachteiligten Gebieten. Zum Beispiel versorgt ein spezielles Programm HIV/Aids- und Virushepatitis-Patienten mit kostenlosen Medikamenten an allen Servicestellen des Gesundheitssystems. Es wird durch eine Sonderzuweisung von umgerechnet 34 Millionen Euro unterstützt und garantiert eine fristgerechte Lieferung der Medikamente.

Behandlungen für Krankheiten, die in Favelas häufig vorkommen, werden auch durch das SUS gedeckt. Dazu gehören Durchfall, Cholera, Hepatitis A und Typhus. Zusammen verursachten diese Krankheiten 87 Prozent der Krankenhausaufenthalte in Brasilien zwischen 2007 und 2015, so TabNet, die Datenanalyseabteilung des SUS. Hinzu kommt eine steigende Belastung durch chronische, nicht übertragbare Krankheiten (siehe Kasten).

Den Kritikern des SUS gehen diese Bemühungen nicht weit genug. Sie beschuldigen das SUS der Korruption und der schlechten Verwaltung. Einige dieser Vorwürfe liegen schon länger zurück; die Regierung des ehemaligen Präsidenten Michel Miguel Elias Temer Lulia fror deswegen die Gesundheitsausgaben ein. Im Januar 2019 kürzte der brasilianische Kongress das nationale Gesundheitsbudget erheblich. Weitere Kürzungen könnten folgen.

Die Befürworter sehen das SUS jedoch trotz einiger Leistungsschwächen als Hoffnungsträger für Menschen, die sich sonst keine medizinische Grundversorgung leisten könnten. Kely Alexandra, die drei Jahrzehnte lang als Krankenschwester gearbeitet hat, sagt: „Jeder Brasilianer spricht schlecht über das SUS, aber jeder braucht es. Die Menschen werden gegen viele Krankheiten geimpft. Das System kümmert sich um die Brasilianer, und die sollten dafür kämpfen.“


Thuany Rodrigues ist eine brasilianische Journalistin.
thuanyrodriigues@gmail.com

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