Vorurteile

Bürger zweiter Klasse

Die brasilianischen Favelas haben den Ruf, Heimat der Drogenszene sowie skrupelloser und gewaltbereiter Bewohner zu sein. Doch auch die Rolle des Staates ist hier wenig ruhmreich: Die Bewohner der armen Stadtteile erleben die Polizei als nahezu ebenso unberechenbar wie Drogenhändler und Militärmilizen.

Von Veronika Deffner

In den achtziger und neunziger Jahren haben Drogenhandel und organisiertes Verbrechen in den brasilianischen Favelas zugenommen. In der Öffentlichkeit etablierte sich dadurch das Bild der Favelas als No-go-areas, als Nährboden für Gewalt und Kriminalität. Tägliche Berichte von Delinquenz und Morden trugen dazu bei, das pauschalisierende Stigma der schwarzen, gewaltbereiten Favela-Bewohner zu verfestigen.

Mit diesem Gewaltdiskurs konnte der Staat seinen Rückzug aus sozialpolitischen Verantwortungsbereichen wie Bildung, Gesundheit und Sicherheit rechtfertigen. In den Favelas entstand dadurch ein Machtvakuum – die Bewohner mussten sich verstärkt selbst organisieren, und für die Drogenkartelle wurde es leichter, sich auszubreiten und die Kontrolle zu übernehmen.

Besonders gravierend war für die Bevölkerung der Rückzug der Polizei. Da die Zivilpolizei beim Abbau von Kriminalität, Gewalt und Korruption versagt zu haben schien, wurden die Präsenz und die Befugnisse der Militärpolizei in den Städten ausgebaut. Die vielfach schlecht ausgebildeten und gering bezahlten staatlichen Sicherheitskräfte bildeten außerdem paramilitärische Gruppierungen. Sie sind für die Armen aufgrund der Gewaltdemonstrationen – vor allem in Rio de Janeiro und São Paulo – zu einer stets präsenten Bedrohung geworden.

Die tatsächliche Macht der Drogenkartelle wird teilweise stark überbewertet. Doch auch dieser Diskurs diente dazu, unangemessene Militäreinsätze zu legitimieren, die auf bloße Einschüchterung und Panikmache in den Favelas abzielen. Eine hoffnungsvolle Wende ist derzeit in den Befriedungsaktionen von Staat und städtischen Regierungen zu sehen, wie in der Favela Dona Marta in Rio. Sie sollen die Favelas wieder sicherer machen und ihren Ruf verbessern.

Strafender Umgang mit Armut

Gewalt wird in Brasilien nach wie vor eng mit Armut und Hautfarbe in Verbindung gebracht. Bereits während der Sklavenbefreiungskämpfe etablierte sich der Ruf der Dunkelhäutigen als kriminell, gewaltbereit und moralisch verdorben. Die „Farbe der Gewalt“ (Wacquant, 2005) ist für die Brasilianer immer noch klar definiert. Die rassistische Diskriminierung wird zudem vom sozialen Status abhängig gemacht. Zwar gibt es in Brasilien durch die Vermischung keine klare Abstufung der Hautfarben mehr. Tatsache ist jedoch, dass die Mehrheit der Favela-Bewohner dunkelhäutig ist.

Der „strafende Umgang“ (Wacquant, 2005) mit den Armen spiegelt sich insbesondere in der Polizeiarbeit und in der Gerichtsbarkeit wider. Amnesty International zufolge kommen in Brasilien vor allem die Ärmsten durch Schusswaffengebrauch ums Leben. 2007 starben weit mehr als 1000 Menschen allein bei Auseinandersetzungen mit der Polizei. „In vielen dieser Todesfälle deuteten die Umstände auf exzessiven Gewalteinsatz der Sicherheitskräfte oder extralegale Hinrichtungen hin“, schreibt Amnesty im Jahresbericht 2007. Die offizielle Darstellung der Polizei dagegen laute üblicherweise „Tod durch Widerstand gegen die Staatsgewalt“.

Auch in Brasiliens Gefängnissen herrschen abhängig vom sozialen Status und der Hautfarbe vielfach entwürdigende Bedingungen, mit Menschenrechtsverletzungen von Misshandlungen über Folter bis hin zu Mord durch Polizisten oder Mitinsassen. Sozial Bessergestellte hingegen, die einen Universitätsabschluss oder auch nur die „richtige“ Hautfarbe haben, profitieren von Einzelhaft und bevorzugter Behandlung. Mit den richtigen sozialen Kontakten oder ausreichend finanziellem Kapital erreichen sie häufig sogar eine Abbuße der Haftstrafe oder eine (vorzeitige) Haftentlassung. Das strukturell verfestigte Zweiklassenstrafrecht erhöht die Verwundbarkeit der städtischen Unterklasse, die nicht als „gleichwertige“ Bürger vor dem Gesetz anerkannt werden.

In der 2,7 Millionen Einwohner zählenden Küstenmetropole Salvador de Bahia ist der organisierte Drogenhandel im Vergleich zu den Megastädten Rio de Janeiro und São Paulo zwar deutlich weniger präsent, aber auch hier gefährdet er gerade die jungen Männer. Fehlender sozialer Halt und Perspektivlosigkeit machen sie labil für die Verlockungen des lukrativen Drogengeschäfts, das einen sozialen Aufstieg unabhängig von Herkunft, Schul- oder Berufsausbildung erlaubt.

„Wenn die Bosse aus Rio kommen, dann suchen sie ihre Leute nach einem bestimmten Profil“, erzählt ein Jugendlicher. Sie suchen Jungen, die wenig Per­spektiven haben, auf sich gestellt leben und arm sind. „Wenn du so jemandem Geld anbietest, macht er, was du ihm sagst“, fügt er an. Viele, die sich so in den Drogenhandel verwickeln, werden dann selbst abhängig, erzählt ein anderer Jugendlicher. „Am Ende bringt entweder die Polizei sie um oder die angeblichen Kumpels wegen ihrer Drogenschulden.“ Die von der organisierten Drogenökonomie ausgehende Gewalt richtet sich jedoch in erster Linie nach innen, also gegen die Favela-Bewohner. Die häufigsten Todesursachen bei Männern zwischen 15 und 30 Jahren sind Unfälle und äußere Gewalteinwirkung (IBGE, 2007). Die meisten Morde dienen jedoch nicht der Einschüchterung der Bewohner, sondern ereignen sich im Streit um die lukrativsten Drogenumschlagplätze oder bei Schusswechseln mit der Polizei. Verfehlte Schüsse fordern zusätzlich immer wieder zivile Opfer.

Gleichzeitig ist soziale oder ethnische Diskriminierung durch die Polizei an der Tagesordnung. Nicht nur Beleidigungen, auch körperliche Verletzungen Unschuldiger kommen immer wieder vor, bleiben jedoch disziplinarstrafrechtlich meist folgenlos. „Die Polizisten wollen es so sehen, dass Schwarze immer Diebe sind. Und wer Dieb ist, ist ein Drogenhändler“, berichtet ein 22-jähriger Favela-Bewohner aus Salvador.

Er zeigt auf Narben und Schrammen an seinem Körper und berichtet, er habe schon viel Prügel bekommen, obwohl er nur danebengestanden habe. „Einmal hat mich die Polizei festgehalten, als ich gerade aus dem Haus von einem Kumpel kam“, erzählt er. „Sie haben uns einen Schlag gegeben und gesagt, dass sie uns mitnehmen, wenn wir uns hier so auf der Straße herumtreiben.“ Gegen diese alltägliche Gewalt schließen sich die Favela-Bewohner notgedrungen zusammen – und schützen dadurch auch jene, die in den Drogenhandel verwickelt sind. „Wir wissen alles über jeden von uns“, sagt ein 44-Jähriger. „Aber wenn die Polizei kommt, sagt niemand etwas. Wir müssen uns gegenseitig schützen.“ Ein weiterer Favela-Bewohner erklärt: „Jeder weiß, wer mit Drogen handelt, aber niemand wird ihn anzeigen. Denn wer den Dealer verrät, ist sein nächstes Opfer.“ Loyalität gegenüber dem staatlichen Sicherheitsapparat wird weder honoriert, noch hilft sie im Alltagsleben.

Auswege aus dem Gewalt-Stigma

Als Wohnorte sind Favelas schlechte Adressen. Die Behandlung der städtischen Unterschicht als Bürger zweiter Klasse durch Polizei, Justiz und Öffentlichkeit trägt dazu bei, dass sich die Favela-Bewohner in einer Armuts- und Gewaltspirale befinden. Sie erfahren Ungerechtigkeit von vielen Seiten – auch der staatlichen.

Um das Problem der Gewalt langfristig anzugehen, sind vor allem in den Bereichen Bildung und Strafrecht weitere Reformen nötig. Die staatlichen Schulen und Berufsausbildungsangebote müssten verbessert werden, Kinder und Jugendliche vor den Lücken im Strafgesetzvollzug geschützt und die prekären Zustände in den Erziehungs- und Wiedereingliederungsanstalten für minderjährige Straffällige aufgehoben werden.

Hoffnung weckt die steigende Zahl an Initiativen zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Favelas. Mit ihnen erhalten die Bewohner nicht nur die Möglichkeit, sich gegenüber der Außenwelt positiv darzustellen. Die Initiativen von staatlicher wie nichtstaatlicher Seite signalisieren Anerkennung, erhöhen die öffentliche Aufmerksamkeit und fördern einen differenzierten Blick auf die Favelas. Nur so kann die diskriminierende öffentliche Meinung verändert werden, die auch die gravierenden Ungerechtigkeiten im Straf- und Justizwesen als legitim erscheinen lässt.