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Empowerment

Mädchen, die sich durchboxen

Boxen ist für viele mehr als nur ein Sport, vor allem wenn junge Frauen im Ring stehen. Ob in Kreuzberg oder in afrikanischen Townships – die sogenannten Boxgirls gewinnen an Selbstvertrauen und bewirken gesellschaftliche Veränderungen.
Südafrikanische Mädchen, die lernen, sich im Leben durchzuboxen. Boxgirls International Südafrikanische Mädchen, die lernen, sich im Leben durchzuboxen.

Die zehnjährige Fate steht vor einem blauen Wellblech in einem kleinen Hinterhof in Kariobangi, einem Slum von Nairobi. „Ich bin stolz, eine Boxerin zu sein, weil ich weiß, was ich wegboxen will“, sagt sie in einem Youtube-Video. HIV/Aids, Armut, Kriminalität und Vergewaltigung, das alles wolle sie als Boxgirl aus der Welt kicken.

Boxgirls ist ein Projekt, das die Sozialwissenschaftlerin Heather Cameron 2005 in Berlin startete. Die gebürtige Kanadierin lehrt an der dortigen Freien Universität Sport- und Integrationspädagogik und gründete die Camp Group, einen „Think-and-Do-Tank“ in Berlin-Kreuzberg. Das Boxgirls-Projekt läuft unter dem Dach der Camp Group.

Mit Boxsport will Cameron Frauen und Mädchen motivieren und unterstützen, sich selbstständig, aktiv und mutig für ihre Belange einzusetzen. Getreu dem Motto: Starke Mädchen bewirken sozialen Wandel. Mittlerweile gibt es Boxgirls-Projekte nicht nur in Berlin, sondern auch in Kenia und Südafrika. Seit seinem Start hat die Camp Group ihr pädagogisches Portfolio stark erweitert. Neben Boxen bietet die Organisation auch Bildungsprogramme für Kinder und Jugendliche an.

Der Boxsport bildet jedoch den Kern der Initiative. „Boxen stärkt nicht nur den Körper, sondern auch die Persönlichkeit“, sagt Cameron im Gespräch in ihrem Kreuzberger Büro. Ihr Blick ist entschlossen, fast kämpferisch. „Ich habe mich fürs Boxen entschieden, weil es ein schöner und herausfordernder Sport ist.“

Cameron boxt seit vielen Jahren und arbeitet nebenbei ehrenamtlich als Trainerin. Das habe sie geprägt. „Man ist allein im Ring und muss seine Ängste, seine Arroganz, einfach alle Emotionen kontrollieren, um eine effektive Boxerin zu werden“, erzählt sie.
Neben sportlichem Erfolg und mehr Fitness lernen die Mädchen beim Boxen auch ihren Körper kennen. „Für junge Frauen ist es besonders wichtig, ein positives Körpergefühl und eine bessere Körperkontrolle zu entwickeln“, sagt Cameron. „Dadurch lernen sie, ihren Körper zu respektieren und zu schützen.“

Das ist auch nötig. Überall auf der Welt werden Frauen Opfer von Gewalt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte 2013 eine erste systematische Studie zum Thema. Die Ergebnisse waren schockierend. Jede dritte Frau auf der Welt hat mindestens einmal körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren. Laut WHO hat sich das bis heute nicht verbessert. Die Erhebung zeigte zudem, dass Gewalt gegen Frauen in allen Ländern, Kulturen und Gesellschaftsbereichen vorkommt.


Mehr Selbstvertrauen

„Das gilt auch für Deutschland“, meint Cameron. Während die Gewalt gegen Frauen in Kenia oder Südafrika viel offensichtlicher sei, hätten auch Mädchen in Deutschland mit patriarchalen Machtverhältnissen zu Hause und in ihren Schulen zu kämpfen. Meistens wachsen die betroffenen Mädchen in sozial und wirtschaftlich schwachen Familien auf. Nicht selten sind es Mädchen mit ausländischen Wurzeln. Von den Berliner Boxgirls haben mehr als 50 Prozent einen Migrationshintergrund.

Aber kann man Gewalt ausgerechnet mit Kampfsport begegnen? Ja, sagen die Boxgirls-Unterstützer: Denn beim Amateurboxen geht es nicht darum, den Gegner k.o. zu schlagen. Wer gewinnen will, muss technisch überlegen sein. Dafür müssen die Mädchen lernen, den Gegner zu lesen, ihm zuvorzukommen und die richtige Strategie zu entwickeln. Beim Boxen geht es also mehr um die innere Haltung als um ihre Schlagkraft.

Cameron ist überzeugt, dass Boxen den heranwachsenden Frauen mehr Selbstbewusstsein und mehr Respekt vor sich selbst verschafft. „So können sie sich auch besser gegen häusliche oder sexuelle Gewalt wehren.“ Das kann sie auch wissenschaftlich belegen. Zahlreiche US-Studien zeigten, dass Mädchen, die in Sportvereinen aktiv sind, seltener im Teen­ager-Alter schwanger wurden oder sexuelle Gewalt in ihren Beziehungen erlebten.


Tabubruch Boxen

Mädchen, die boxen, können laut Cameron aber noch viel mehr erreichen. „Zuerst haben sie natürlich Spaß. Durch diesen Spaß können wir dann andere Charaktereigenschaften stärken.“ Wie etwa das Bewusstsein dafür, selbst etwas verändern zu können, anstatt sich fremdbestimmt zu fühlen. Der Boxsport befähige Mädchen, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen und für ihre Ziele zu kämpfen.

Und: „Boxende Frauen brechen immer noch mit vielen Tabus“, sagt die Sportpädagogin. Nämlich eine „unweibliche“ und vermeintlich brutale Sportart mit Schlagen und Körperkontakt zu betreiben. Eine erfolgreiche Boxerin zeigt nach Ansicht Camerons aber, dass sich Frauen auch in anderen Männerdomänen behaupten können.

Etwa so wie die 17-jährige Berliner Boxmeisterin Zeina Nassar. Die gläubige Muslima boxt mit Kopftuch. Sie hat sich durchgesetzt, trotz der Vorbehalte ihrer Eltern. Heute ist sie der Star von Boxgirls Berlin und ein Vorzeigebeispiel für den integrativen Ansatz des Vereins.

Ähnlich wie Zeina wünschen sich auch viele afrikanische Mädchen mehr Selbstbestimmung. Zum Beispiel im schroffen Township-Alltag von Nairobi. Boxgirls Kenia erreicht mittlerweile mehr als 600 Mädchen und junge Frauen in sechs Townships von Nairobi. Das Projekt ist 2007 entstanden und seitdem zu einer selbstständigen Initiative gewachsen. Dabei arbeiten lokale Trainer und Trainerinnen mit Grundschulen zusammen. Sie treffen sich wöchentlich mit den Mädchen zum Boxtraining.

Bei Boxgirls Südafrika sind kürzlich noch weitere Aktivitäten dazugekommen. In Kapstadts Township Khayelitsha gibt es in 15 Grundschulen nun auch eine Nachmittagsbetreuung. Die Mädchen können dort ihre Hausaufgaben unter Aufsicht machen. Die „Afterschool Clubs“ erfüllen aber noch eine ganz andere Funktion: In der Gemeinschaft finden die Mädchen die Sicherheit, über Probleme und schwierige Situationen in der Familie oder ihrem Umfeld zu sprechen. Die Gruppenleiterinnen fungieren oft als Vorbilder für die Mädchen und stehen ihnen in schwierigen Zeiten als Vertrauenspersonen zur Seite. Gleichzeitig lernen die Mädchen, in der Gruppe konstruktiv mit Konflikten umzugehen und Situationen mit Gewaltpotenzial zu entschärfen.

Die Camp Group in Berlin schlüpft bei allen Projekten zunehmend in die Beraterrolle. Ziel ist, dass sich die Projekte letztendlich finanziell und organisatorisch selbst tragen. Boxgirls Kenia und Berlin sind heute eigenständige Partner im internationalen Boxgirls-Netzwerk.


Wunsch nach Evaluierung

Trotz der Erfolge bleibt es schwer, die Wirkung der Projekte empirisch zu belegen. „Wir wollen nicht nur schöne Geschichten von glücklichen Kindern erzählen“, sagt Cameron. Das sei aber nicht einfach. Ihr Team arbeitet derzeit mit Kollegen an verschiedenen Universitäten an besseren Methoden, um die gesellschaftliche Wirkung von Boxgirls zu evaluieren.

Für die Nachmittagsbetreuung im südafrikanischen Projekt gibt es bereits einen Ansatz. Wissenschaftliche Mitarbeiter der Deutschen Sporthochschule Köln und der University of the Western Cape bewerten vor und nach dem Projekt in vier Stufen die sozialen und die Kommunikationsfähigkeiten sowie die schulische Leistung der Mädchen in Mathematik und Englisch. Dabei befragen sie auch die Eltern und Betreuer. Die ersten Ergebnisse der Vorabstudie sind bereits sehr positiv.

Aber auch ohne konkrete wissenschaftliche Belege können die Boxgirls viele Auszeichnungen vorweisen: 2005, im UN-Jahr des Sports, ernannte die Sportkommission des deutschen Bundestags Boxgirls zum Modellprojekt. Vier Jahre später bekam die Initiative den Sonderpreis der Bundeskanzlerin beim Wettbewerb startsocial.

Heather Cameron wurde zudem 2010 als erste ausländische Professorin zur deutschen Hochschullehrerin des Jahres gekürt – und das nicht nur wegen ihrer theoretischen Arbeit. „Mich interessiert es recht wenig, Artikel für die Bibliothek zu schreiben“, sagt sie. „Mir hat die Arbeit mit den Mädchen vor Ort schon immer mehr am Herzen gelegen.“


Theresa Krinninger ist freie Journalistin. Sie hat von 2013 bis 2014 für die GIZ in Malawi im Grundbildungsprogramm gearbeitet.
theresa.krinninger@gmail.com


Links

Boxgirls International:
http://www.boxgirls.org/
Camp Group:
http://www.respact.org/home/