Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Gesundheit für alle

Buen Vivir

Warum sich Lateinamerika auf das Konzept der Basisgesundheitsversorgung besinnt – und welche Rolle freiwillige Gesundheitshelfer dabei spielen. Von Barbara Kühlen und Susanne Schmitz
Traditional midwife  in Guatemala. PIES occidente Traditional midwife in Guatemala.

Gesundheitsversorgung für alle Menschen und die entsprechenden Prinzipien, die auf einem Gipfel der Weltgesundheitsorganisation WHO 1978 in Alma-Ata beschlossen wurden, sind aktueller denn je. Die Erklärung, die die Weltgesundheitsversammlung damals im heutigen Almaty in Kasachstan verabschiedete, war revolutionär. Ihr zufolge ist Gesundheit nicht die bloße Abwesenheit von Krankheit, sondern „vollständiges, körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden“ und fundamentales Menschenrecht.

Das Ziel, „Gesundheit für alle Menschen bis zum Jahr 2000“, war ambitioniert. Vor allem arme Bevölkerungsschichten in Afrika, Lateinamerika und Asien sollten in die Gesundheitssysteme integriert werden. Als Strategie wurde das Konzept der „Basisgesundheitsversorgung“ propagiert.


Breite Partizipation

Dieses sektorübergreifende Konzept schließt präventive, kurative und rehabilitierende Maßnahmen ein und berücksichtigt lokale Lebensumfelder, kulturelle Gewohnheiten und örtliche Ressourcen. Es legt Wert auf aktive Partizipation und Verantwortung der Menschen für ihre Gesundheit. Selbstverständlich sollen Krankheitsursachen erforscht und bekämpft werden.
 
Entgegen späteren Interpretationen orientierte sich dieses Konzept zwar an der Basis, beschränkte sich aber nicht darauf, diese zu stärken. Es schloss alle Ebenen der Gesundheitsversorgung ein: vom Gesundheitsposten bis zum Krankenhaus. Das Ziel war, die Zusammenarbeit aller Ebenen zu verbessern.

Neben Fehlinterpretationen behinderten mangelnder politischer Wille, institutioneller Widerstand und ungünstige wirtschafts- und sozialpolitische Bedingungen die Umsetzung. Viele Regierungen wehrten sich ­gegen diese „Demokratisierung der Gesundheit“. Basisgesundheitsversorgung galt bald als zu teuer. Internationale Organisationen wie die Weltbank hielten so genannte „vertikale“ Programme, die auf die Bekämpfung spezifischer Krankheiten wie HIV/Aids oder Malaria ausgerichtet sind, für wesentlich effizienter.

In den Privatisierungswellen der 80er Jahre zogen sich Staaten zunehmend aus dem Gesundheitssektor zurück. Budgets für Gesundheitssysteme sanken stetig und wurden meist für repräsentative Projekte in urbanen Zentren eingesetzt. Ein großer Teil der – vor allem ländlichen – Bevölkerung wurde von der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen. Der Geist von Alma-Ata schien tot.

Doch spätestens seit der WHO-Jahresbericht 2008 – 30 Jahre nach Alma-Ata – die medizinische Grundversorgung für alle anmahnte, besinnt man sich auf die Ziele von Alma-Ata. Vor allem in Lateinamerika erleben sie eine Renaissance. Im Juni 2012 trafen sich Partnerorganisationen von action medeor – dem zivilgesellschaftlichen europäischen Medikamentenhilfswerk – aus Mexiko, Guatemala, Haiti, Bolivien, Ecuador und Kolumbien in Guatemala. Ihre Auffassung von Gesundheit und Gesundheitsversorgung, ihre Erfahrungen und Forderungen mündeten in eine Abschlusserklärung, deren Inhalte unser Artikel wiedergibt.

 
Gutes Leben

In Lateinamerika gibt es ein neues Entwicklungsmodell, das eine Alternative zum bloßen Streben nach materiellem Wohlstand darstellt: „Buen Vivir“. Es bedeutet „gutes, erfülltes Leben“ und ist geprägt von Wertvorstellungen indigener Völker des Andenraumes, die nach einem Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur streben.

In den andinen Sprachen Quechua und Aymara existiert kein Begriff für „Gesundheit“. Sie wird mit Buen Vivir übersetzt. Doch dieser Begriff umfasst viel mehr. Er schließt neben rein medizinischen Elementen auch soziale Determinanten von Gesundheit ein und den spezifischen, kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontext.

In Ecuador und Bolivien hat das Konzept „Buen Vivir“ bereits Verfassungsrang. In Bolivien wurde ein neuer Ansatz in der Gesundheitspolitik entwickelt: „Salud Familiar Comunitaria Intercultural“ (SAFCI) – das bedeutet Gesundheit der Familie, Gemeinschaft und aller Kulturen. Dieses Wohlergehen gilt als ein vom Staat zu garantierendes Grundrecht. Angestrebt werden eine ganzheitliche Gesundheitsversorgung, die Schulmedizin und traditionelle Medizin einschließt und die Zusammenarbeit aller Akteure im Gesundheitssystem. Praxis ist das freilich noch nicht (siehe Interview auf Seite 27).

Die fortschrittlichen Ziele der bolivianischen Gesundheitspolitik werden längst nicht von allen verstanden und nur von wenigen Entscheidungsträgern gelebt und geliebt. Bei vielen regierungsunabhängigen Organisationen aber stößt Boliviens Präsident Evo Morales damit auf offene Arme. Denn sie verstehen und schätzen die Philosophie dahinter. Die Prinzipien der Basisgesundheitsversorgung im Sinne von Alma-Ata bilden für viele – auch für die Partner von action medeor in Lateinamerika – den Handlungs- und Referenzrahmen ihrer Arbeit. Damit diese aber Früchte trägt, muss der Ansatz auf allen Ebenen umgesetzt werden, einschließlich lokaler Gesundheitshelfer und traditioneller Heiler.


Traditionelle Akteure

Dorfgesundheitshelfer und traditionelle Geburtshelferinnen sind sehr wichtig. Sie arbeiten in Lateinamerika meist ehrenamtlich. Manchmal werden sie in Naturalien entgolten, aber in jedem Fall beeinträchtigt ihr Engagement ihre eigene Erwerbstätigkeit und Subsistenzsicherung. Durch Gesundheitserziehung leisten sie einen wertvollen Beitrag zur Prävention von Krankheiten. Oft stellen sie eine medizinische Basisversorgung auf der ersten Ebene sicher. Ohne sie wäre die Versorgung weiter Teile der ländlichen Bevölkerung noch schlechter.

In der Regel gehören Dorfgesundheitshelfer zur selben indigenen oder mestizischen Gemeinschaft wie ihre Patienten. Daraus erwächst ein hohes Maß an Solidarität. Die Bereitschaft, ehrenamtlich aktiv zu werden, ist dadurch viel höher als in Europa. Lokale Gesundheitshelfer kennen ihre Patienten, sprechen deren Sprache und berücksichtigen kulturelle Gewohnheiten. Sie nutzen traditionelles Wissen, alternative Heilmethoden und lokale Ressourcen, und sie verfolgen einen ganzheitlichen Ansatz. Ihre Leitlinie ist ein traditioneller, respektvoller Umgang mit Mensch und Natur. Ihre Autorität und Legitimität sind groß.

Doch Zusammenarbeit mit dem akademisch geprägten Gesundheitswesen suchen sie oft vergeblich. Weil sie keine formale Ausbildung oder ausreichende Fortbildung absolviert haben, bringen ihnen offizielle Stellen selten Wertschätzung entgegen. Ihre Rolle muss dringend aufgewertet werden – und ihre Qualifikation muss verbessert werden. Die Dorfgesundheitshelfer müssen auf ihre Aufgabe vorbereitet und mit Fortbildungen, Feedback und Supervision unterstützt werden. Bisher werden sie fast überall marginalisiert, wodurch lebensrettendes Potenzial ungenutzt bleibt. Ihre Einbeziehung stärkt jedoch das Gesundheitssystem als Ganzes.

Vor allem aber brauchen diese Freiwilligen eine angemessene Aufwandsentschädigung für Fahrtkosten und Zeit, monetär oder in Sachwerten – etwa in Form von Stipendien oder einem Grundstock für Einkommen schaffende Maßnahmen. Denn schließlich sollen sie sich für das Recht auf Gesundheit für alle einsetzen können, ohne dabei ihren eigenen Lebensunterhalt zu gefährden.

Für die langfristige Motivierung von Gesundheitshelfern ist eine offizielle Anerkennung – etwa in Form von Zertifikaten, Zeugnissen und Ausweisen – entscheidend, ebenso wie deren Einbindung in Entscheidungsprozesse. Staatliche Stellen und regierungsunabhängige Organisationen vor Ort sollten sie als gleichwertige Partner sehen, sie in institutionelle Prozesse einbinden und ihnen ein Mitspracherecht geben.

Basisgesundheitsversorgung kann nur erreicht werden, wenn der profitorientierten Privatisierung der Gesundheitssysteme entgegengesteuert wird. Der Staat trägt die Verantwortung für alle Bürger und darf keine Gruppen diskriminieren. Deshalb muss er auch der Gesundheitsversorgung auf der ersten Ebene ein angemessenes Budget zur Verfügung stellen, für die Partizipation örtlicher Gemeinschaften sorgen und die Menschen über ihre Rechte aufklären.


Nicht nur weiße Kittel

Privatsektor, Staat, nationale und internationale regierungsunabhängige Organisationen müssen ­Allianzen bilden und als gleichermaßen wichtige Akteure zusammenarbeiten, ohne dabei örtliche nichtstaatliche Organisationen auf Service-Provider und Lückenfüller zu reduzieren. Internationale Geber – ob staatlich oder ­zivilgesellschaftlich – sollten ihre Mittel nicht nur für Gesundheitsprojekte mit schnell erfassbaren Wirkungen einsetzen.

Aber auch die regierungsunabhängigen Organisationen selbst müssen ihre Rolle erweitern: Lokale Organisationen im Süden sollten neben ihren eigenen Versorgungsleistungen auch die staatliche Politik kritisch begleiten und die Verwendung der Gesundheitsbudgets überwachen. Dabei müssen wir im Norden unseren Partnern helfen, sie beraten und ihre Lobbyarbeit finanziell unterstützen, um langfristig für alle Menschen das Recht auf Gesundheit zu verwirklichen.

Das Abschlussplädoyer eines unserer Partner aus Ecuador während unserer gemeinsamen Tage ist beherzigenswert: „Allen muss klar werden, dass Gesundheit nicht nur eine Angelegenheit von Menschen in weißen Kitteln ist.“