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Wirtschaftsgeschichte

Immer wieder zurück auf ‚Start’

Trotz gut ausgebildeter Bürger, Rohstoffreichtum und großem Potenzial rutscht Argentinien regelmäßig in Wirtschaftskrisen.
Im Dezember 2001 bezeichneten Demonstranten in Buenos Aires die Regierung als Dieb und forderten ihr Geld zurück – einige trugen Masken des damaligen Präsidenten Fernando de la Rúa. Garcia/picture-alliance/dpa Im Dezember 2001 bezeichneten Demonstranten in Buenos Aires die Regierung als Dieb und forderten ihr Geld zurück – einige trugen Masken des damaligen Präsidenten Fernando de la Rúa.

In den vergangenen sieben Jahrzehnten hat Argentinien sich nicht gleichmäßig und gesund entwickelt. Das Land befindet sich in einer schlechteren Lage als nötig wäre. Das liegt an politischer Instabilität, obwohl Argentinien seit 1983 ein demokratisches System hat. Diese Fehlentwicklung muss man erklären:

  • Erstens spielt der Staat eine starke Rolle in Argentiniens Wirtschaft, die von Rohstoffexporten, einschließlich Agrarprodukten, abhängt. Diese Exporte generieren nicht die Devisenreserven, die das Land benötigt. Das ist die größte Entwicklungshürde. Bis jetzt war es nicht möglich, die Wertschöpfung zu steigern, um höherwertige Produkte international zu verkaufen. Selbst wenn die Exporte gesteigert werden, müssen zudem grundlegende Güter importiert werden. So entsteht ein Außenhandelsdefizit. Zusammen mit inflationärem Druck sorgt es dafür, dass der Wechselkurs des Peso, der nationalen Währung, ständig sinkt. Irgendwann setzt eine Rezession ein. Dieses Muster wiederholt sich seit langem. Verschiedene wirtschaftspolitische Konzepte haben das nicht verhindert. Verschiedene Regierungen versuchten, Industrialisierung zu stimulieren, um Importe zu ersetzen, aber Argentiniens verarbeitende Industrie konnte nie auf dem Weltmarkt mithalten.
  • Zweitens arbeiten die meisten argentinischen Unternehmer in geschützten Märkten. Viele profitieren von engen Kontakten zum Staatsapparat. Ihre Geschäfte beruhen oft darauf, dass sie vertrauliche Informationen erhalten. Der Ausdruck „Patria contratista“ (was in etwa „Nation von Auftragnehmern“ bedeutet) illustriert die illegitimen Verbindungen zwischen privaten Unternehmen und öffentlicher Hand. Sogar Gewerkschaftsführer gehören zu diesen Netzwerken.
  • Drittens neigen argentinische Sparer dazu, Dollars für den Fall zu horten, dass die Inflation zunimmt und der Peso wieder entwertet wird. Experten sind sich aber nicht einig, was Inflation verursacht. Orthodoxe Ökonomen sagen, ein ineffizienter und korrupter Staat drucke einfach immer mehr Geld, um das selbstgemachte Haushaltsdefizit abzufedern. Andere meinen, dass Inflation der am wenigsten schmerzhafte Weg sei, um Verteilungsprobleme zu lösen, denn die Arbeitnehmereinkommen „hinken“ immer hinter der Inflation her.

In diesem komplexen Szenario waren die Auslandsschulden typisch für die argentinische Wirtschaftsstruktur. Wie auch in anderen Schwellenländern liegen die Wurzeln der momentanen Probleme in der Krise der 1970er Jahre, als die Ölpreise stiegen und Argentinien von einer brutalen rechtsgerichteten Militärjunta regiert wurde. Die Finanzen der Diktatur waren undurchsichtig. Sie lieh sich große Summen im Ausland. Derweil verschlechterte sich der Lebensstandard der Menschen. Die Rückkehr zur Demokratie 1983 änderte dies nicht.


Der Ausverkauf der 1990er

Das Jahrzehnt der 1990er markiert einen Wendepunkt in Argentiniens Wirtschaftsgeschichte. Dies waren die Jahre, als Präsident Carlos Menem regierte. Er war der Vorsitzende der Peronisten, einer Partei, die ökonomischen Nationalismus als einen ihrer Grundprinzipien betrachtet. Menem wurde erstmals 1989 in der Zeit der Hyperinflation gewählt. Diese extreme Situation war der Hintergrund für einen radikalen Abbau des öffentlichen Sektors. Später entschied sich die Regierung Menem für einen fixierten Wechselkurs, bei dem ein Peso ein Dollar wert war. Diese Maßnahme sollte die Inflation stoppen. Sie implizierte aber, dass ausreichend internationale Währungsreserven generiert werden mussten.

Historisch stand der Peronismus immer für eine staatliche Kontrolle der Wirtschaft und für die Verstaatlichung großer Unternehmen. Menem entschied sich jedoch für einen komplett anderen Kurs. Er öffnete die Wirtschaft und schaffte Gesetze ab, die den Außenhandel eingeschränkt hatten. Er privatisierte im großen Stil Staatsunternehmen an private Investoren in Argentinien und im Ausland. Menem und sein Wirtschaftsminister Domingo Cavallo akzeptierten die Dogmen, die damals von den internationalen Finanzinstitutionen vorgebetet wurden. Sie formulierten ungewohnte Strategien. Der Internationale Währungsfonds (IWF) unterstützte ihre Politik und finanzierte sie mehrfach mit Krediten.

Der marktradikale Ansatz schien anfangs zu funktionieren. Ausländisches Kapital floss in das Land, weil die Investoren von der Privatisierungswelle profitieren wollten. Die Wirtschaft erholte sich zeitweilig. Einige Branchen brachen jedoch ohne staatlichen Schutz zusammen. Arbeitslosigkeit wurde zum Dauerproblem.

Andere Probleme wurden ebenfalls bald deutlich. Mexikos Finanzkrise 1994 (die sogenannte „Tequila-Krise“) hatte einen ansteckenden Effekt auf andere Schwellenländer, in denen Anleger ähnliche Risiken vermuteten. Auch aus Argentinien floss rasch Kapital ab, so dass die Wirtschaft des Landes 1995 um drei Prozent schrumpfte. Sie erholte sich in den folgenden Jahren ein wenig, aber die Lage war offensichtlich instabil. Erneut setzte Inflation ein. Durch den festgesetzten Wechselkurs war der Peso schon bald überbewertet, was es schwerer machte, Güter mit hoher Wertschöpfung zu exportieren.


Der Kollaps von 2001/2002

Die Probleme eskalierten 1999 kurz nachdem Präsident Fernando de la Rúa gewählt worden war. Seine liberale Allianz hatte im Wahlkampf die Wechselkursbindung verteidigt. Angesichts eines Abflauens der Wirtschaftsaktivität, einer schweren Finanzkrise und wachsender Kapitalflucht zeigte sich die Inkompetenz der Alianza: Sie versuchte, die Konvertibilität zum festen Wechselkurs beizubehalten, koste es, was es wolle. Ende 2001 begrenzte ein Regierungsdekret dann sogar, wie viel Geld die Menschen von ihren Bankkonten abheben durften. So versuchte die Regierung den Geldfluss ins Ausland zu bremsen. Wenn Bürger nicht an ihr Geld kommen, nützt ihnen ein fester Wechselkurs jedoch nichts mehr.

Daraufhin beendete der IWF seine Unterstützung. Ihm war die Wechselkursbindung nie wichtig gewesen, aber die allgemeine wirtschaftspolitische Richtung gefiel ihm.  Ohne Zugang zu frischem Geld musste die Regierung die Zahlungsunfähigkeit erklären. Die Wechselkursbindung wurde offiziell aufgegeben, sodass die Ersparnisse der Menschen über Nacht ihren Wert verloren. Die Wirtschaft brach zusammen. Seitdem ist der Ruf des IWF in Argentinien außerordentlich schlecht. Die Leute erinnern sich daran, dass die multilaterale Institution den marktradikalen Ansatz unterstützt hatte und dass ihr Rückzug dann zum Wirtschaftskollaps führte.

Im Chaos Ende 2001/Anfang 2002 erschütterten Krawalle und Plünderungen das Land. Die Polizei tötete mindestens 36 Menschen. Die etablierten Politiker waren völlig diskreditiert. De la Rúa trat zurück und drei seiner Nachfolger waren jeweils nur wenige Tage im Amt. Die Wirtschaft befand sich im freien Fall. Schon bald war sie um ein Viertel kleiner als 1998. In urbanen Gebieten lebten 58 Prozent der Menschen unterhalb die Armutslinie.

Schließlich stabilisierte sich die politische Lage unter dem Übergangspräsident Eduardo Duhalde und auch die Wirtschaft erholte sich ganz langsam. Der Absturz war so tief gewesen, dass ein völliger Neustart vonnöten wurde. Das hatte allerdings den Vorteil, dass sich Argentinien deshalb nicht mehr länger an die Vorgaben des IWF halten musste. Obendrein war die globale Wirtschaftslage plötzlich günstiger, da eine starke Nachfrage für landwirtschaftliche Güter – besonders nach Soja – bestand. Einige Jahre lang hatte Argentinien sogar eine positive Handelsbilanz.

Präsident Nestor Kirchner, der 2003 gewählt wurde, nutzte die günstigen Trends. Er war ein Peronist der staatlichen Tradition. Es gelang ihm, zu den Erlass von zwei Drittel der Auslandsschulden auszuhandeln. Aber das Schuldenproblem konnte nicht abschließend gelöst werden, da einige private Investoren nicht auf ihre vollen Ansprüche verzichten wollten und ein Gericht in den USA ihnen recht gab. Jedoch schuldete Argentinien nun weder internationalen Finanzinstitutionen noch ausländischen Regierungen. Es wurde sozusagen wieder ein normales Mitglied der internationalen Gemeinschaft.

Nachfolgerin von Kirchner war 2007 seine Frau Cristina Fernández, die bis 2014 an der Macht blieb (Kirchner starb 2010). Die Industrialisierung schritt aber nicht voran und die Verbindungen von Unternehmen zu staatlichen Institutionen wurden wieder wichtig. Die Regierung wurde immer mehr mit Korruption assoziiert, während die bestehenden Probleme von Argentiniens rohstoffbasierter Wirtschaft nicht gelöst wurden.

Seit 2015 ist Präsident Mauricio Macri im Amt. Im Wahlkampf versprach er, die Wirtschaft zu liberalisieren und zu normalisieren. Internationale Investoren unterstützten ihn anfangs, verloren aber Anfang dieses Jahres ihre Geduld. Grund dafür war, dass er nicht so schnell vorging wie versprochen. Angesichts eines schnellen Wertverfalls des Pesos befindet sich die Wirtschaft im Abschwung und Macri musste den IWF um Hilfe bitten. Das tieferliegende Problem ist jedoch eine Veränderung im globalen makroökonomischen Umfeld. Jahrelang war der Dollar billig, weil die Zinsen in den USA niedrig waren. Entsprechend flossen Spekulationsgelder in Schwellenmärkte. Höhere Zinsen bedeuten, dass private Investoren sich nun eher von Ländern wie Argentinien fernhalten.

Die Wirtschaft befindet sich zwar in einer Rezession, aber die Lage ist nicht so dramatisch wie im Winter 2001/2002. Die Erinnerung an jene Krise ist bei den Menschen jedoch noch wach, und die Stimmung ist angespannt. Die meisten glauben zwar nicht, dass die Krise diesmal so extrem eskaliert – aber das hatte damals auch keiner erwartet.


Jorge Saborido ist beratender Professor für Geschichte an der Universität Buenos Aires.
jorge_saborido@hotmail.com

Korrektur, 6.9.2019: Der Beitrag wurde um den Hinweis ergänzt, dass der IWF bis 2001 nicht die Wechselkursbindung, wohl aber die generelle Richtung der Wirtschaftspolitik gut gefunden hatte.