Frauenrechte

Eigene Stärken und Fähigkeiten fördern

Medica Afghanistan kämpft gegen die Diskriminierung von Frauen und ist eine der wenigen Organisationen in Afghanistan, die sich um Überlebende sexualisierter Gewalt kümmern. Die Leiterin der Nichtregierungsorganisation, Humaira Rasuli, und ihre Stellvertreterin Saifora Paktiss berichten über ihre Arbeit, über das bisher Erreichte und über künftige Herausforderungen.
Demonstration gegen sexualisierte Gewalt und für Frauenrechte 2013 in Kabul. Medica Afghanistan Demonstration gegen sexualisierte Gewalt und für Frauenrechte 2013 in Kabul.

Wie ist 15 Jahre nach dem Sturz der Taliban die Situation der Frauen in Afghanistan?

Humaira Rasuli: Es gibt ganz klare Veränderungen und messbare Erfolge. Die Teilhabe von Frauen im öffentlichen Bereich ist deutlich sichtbar, sei es in der Bildung und im Gesundheitswesen, im Sport, in den sozialen Medien oder in der Willensbildung. Frauen wurden zu Ministerinnen, Gouverneurinnen, Botschafterinnen und Mitgliedern des Hohen Friedensrates ernannt, einige wurden ins Parlament gewählt. Es gibt auch Ärztinnen, Lehrerinnen, Juristinnen, Journalistinnen und Menschenrechtsaktivistinnen. Gleichzeitig beobachten wir aber, dass die Gewalt gegen Frauen zunimmt. Ich möchte das Beispiel von Farkhunda nennen, einer jungen Frau, die 2015 zu Unrecht beschuldigt wurde, einen Koran verbrannt zu haben, und in Kabul von einem wütenden Mob getötet wurde. Nicht alle, die an dieser abscheulichen Tat beteiligt waren, wurden verurteilt, und einige erreichten in Berufungsverfahren die Reduzierung ihres Strafmaßes. Die Urteile werden derzeit vom Obersten Gerichtshof überprüft.

Saifora Paktiss: Es gibt weitere Beispiele: Weibliche Sicherheitskräfte werden belästigt, Schülerinnen werden mit Säure übergossen oder vergiftet, Journalistinnen und Anwältinnen werden ermordet. Die Müttersterblichkeit nimmt zu, Afghanistan liegt hier inzwischen in der weltweiten Rangliste auf dem vorletzten Platz vor Sierra Leone. Im Parlament werden Frauenrechte in Frage gestellt, das Ministerium für Frauen erhält keine Unterstützung, und die Einstellung von Frauen als hohe Beamtinnen wird immer schwieriger.

Humaira Rasuli: Zu den größten Problemen für afghanische Frauen zählen die schwierige Sicherheitslage sowie der mangelnde Zugang zu einem unparteiischen Justizsystem und zu Rechtsbeistand. In Afghanistan dominiert noch immer das traditionelle Rechtssystem. Frauen haben auch keinen ausreichenden Zugang zu Gesundheitsdiensten und zu Bildung. Sie werden systematisch diskriminiert und erfahren unterschiedliche Formen von Gewalt: körperliche, psychische, sexualisierte und wirtschaftliche. Es fehlt der politische Wille, Frauen als eine Hälfte der Gesellschaft zu akzeptieren und sie in den Aufbau des Landes einzubinden. Der afghanische Präsident, seine Ehefrau und einige Regierungsmitglieder unterstützen die Anliegen von Frauen, aber andere wichtige Akteure behindern den Fortschritt.


Warum wird das Gesetz, das Gewalt gegen Frauen verbietet, kaum umgesetzt?

Humaira Rasuli: Das ist ein Beleg für den fehlenden politischen Willen, Frauenrechte als selbstverständlichen Bestandteil des Regierungshandelns anzusehen. Hinzu kommen systemische Hürden: das schwache Rechtssystem, das fehlende Wissen über die Gesetze und deren Zweck, ein mangelndes Verständnis der unterschiedlichen Arten von Gewalt und auch Korruption und Vetternwirtschaft.


Wie sieht die Arbeit von Medica Afghanistan aus?

Saifora Paktiss: Wir konzentrieren uns auf direkte Hilfe für Überlebende sexualisierter Gewalt in Kabul, Herat und Mazar-e-Sharif. Mit unserer Rechtsberatung wollen wir die Frauen stärken, sie unterstützen und ihnen die Mittel an die Hand geben, um ihre Rechte im Rahmen des staatlichen Justizsystems durchzusetzen. Wir setzen uns auch bei den Behörden dafür ein, dass Frauen einen besseren Zugang zum Justizsystem erhalten. Durch unsere stress- und traumasensible psychosoziale Beratung helfen wir Frauen, ihre eigenen Stärken, Fähigkeiten und Ressourcen wiederzuentdecken. In unserer Beratung lernen sie, wie sie dazu ihre eigenen Schutz- und Bewältigungsmechanismen nutzen können.

Humaira Rasuli: Darüber hinaus bieten wir individuelle psychosoziale Dienstleistungen in fünf staatlichen Krankenhäusern in Kabul an sowie Gruppenberatung in Frauengefängnissen, im Women’s Garden in Kabul und in nichtstaatlichen Frauenunterkünften. Wir veranstalten auch Fortbildungen über die vielfältigen Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen, über den Umgang mit Traumata oder über Mediation. Außerdem sprechen wir mit Islamgelehrten, Polizisten und Richtern, um sie für das Thema zu sensibilisieren und zu einer Änderung ihres Verhaltens zu bewegen. Wir geben unsere Methode der Stress- und Traumabewältigung auch an Pflegekräfte in Krankenhäusern oder an Mitarbeiter von Frauenhäusern weiter. Wir wollen Frauen über ihre Rechte aufklären und ihnen helfen, ihr Leben zu verändern. Das sind Themen, bei denen alle anderen relevanten Akteure schweigen.


Können Sie konkrete Fälle nennen?

Humaira Rasuli: Ich nenne Ihnen zwei Beispiele: N. war die dritte Frau ihres Ehemannes. Sie wurde von ihrem Mann und seiner ersten Frau auf vielerlei Arten misshandelt und verlor dadurch sogar ihr ungeborenes Kind. Drei Jahre nach der Heirat verließ ihr Mann sie, doch dessen Familie sperrte sie weiter ein. Eine frühere Klientin von Medica Afghanistan machte uns auf den Fall aufmerksam und wir kümmerten uns darum. Der Mann wurde schließlich zu drei Monaten Gefängnis verurteilt und willigte in die Scheidung ein.

Das zweite Beispiel: L. wurde im Alter von zwölf Jahren gezwungen, einen psychisch kranken Mann zu heiraten, weil ihr Bruder dessen Schwester heiraten wollte. Sie lebte 18 Jahre mit dem Mann zusammen und wurde von ihm und seiner Familie misshandelt. Nur wegen ihres Sohnes verlangte sie nicht die Scheidung. Nachdem ihr Mann im Juni 2016 erneut gewalttätig wurde, wandte sie sich an die Außenstelle des Frauenministeriums in ihrer Provinz. Diese verwies sie an die Mediationsabteilung unserer Organisation. Dort erhielt sie psychosoziale und rechtliche Beratung. Sie beschloss, sich mit Hilfe einer Mediation von ihrem Mann zu trennen. Als dies misslang, rief sie mithilfe eines Anwalts das Familiengericht an, das zu ihren Gunsten urteilte. L. konnte sich scheiden lassen und wurde von einer unserer Sozialarbeiterinnen in einem Alphabetisierungskurs untergebracht.


Was sind Ihre wichtigsten Ziele?

Saifora Paktiss: Unser Hauptziel ist, das Bewusstsein für Frauenrechte zu schärfen und deren Durchsetzung in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Justiz zu fördern. Dazu ist es absolut unerlässlich, Männer für die Folgen sexualisierter Gewalt zu sensibilisieren und sie in die Suche nach Lösungen einzubinden. Beispielsweise veranstaltet Medica Afghanistan Fortbildungen für Rechtsanwälte, Staatsanwälte, Ärzte, Sozialarbeiter, Polizisten und Geistliche über die Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen. Wir informieren über die traumatisierende Wirkung von Gewalt auf die Betroffenen, auf ihre Familien, auf Institutionen und auf die Gesellschaft insgesamt. Indem wir uns für eine bessere Lebensqualität von Frauen einsetzen, werben wir auch für ein gerechteres und friedlicheres Afghanistan. Wir ermutigen außerdem zu einem Austausch zwischen Frauen aus verschiedenen Ländern, Kulturen, sozialen Schichten und Konfliktparteien und tragen so zum Friedens- und Versöhnungsprozess bei.


Was hat Medica Afghanistan bisher erreicht?

Humaira Rasuli: Auf politischer Ebene haben wir als führende Organisation erfolgreich für das Verbot der Kinderehe gekämpft und die verpflichtende Registrierung von Eheschließungen bei Gericht verlangt. Wir haben uns für die Ratifizierung des Familienrechts eingesetzt und Kampagnen für die Umsetzung des Gesetzes über das Verbot von Gewalt gegen Frauen (elimination of violence against women, EVAW) gestartet. Wir haben Gruppenkampagnen für die Einrichtung von EVAW-Gerichten und speziellen Strafverfolgungsabteilungen organisiert. Als eine von wenigen NGOs dokumentieren wir Fälle, die von Anwälten betreut werden und bei denen es auf der Grundlage des EVAW-Gesetzes zur Anklage kam. Dass wir die Schmerzen vieler Frauen und Mädchen lindern konnten, ist natürlich ebenfalls ein Erfolg.


Was sind die größten Herausforderungen in der Zukunft?

Saifora Paktiss: Eines unserer größten Probleme ist die Sicherheit. Wir können unsere Arbeit nicht in die ländlichen Gebiete ausdehnen, wo Frauen noch stärker unter häuslicher Gewalt leiden als in den Städten. Auch können wir aufgrund der schlechten Sicherheitslage nicht so einfach internationale Berater einladen, die uns bei der Verbesserung unserer Arbeit unterstützen. Als NGO sind wir auf einen kontinuierlichen Mittelfluss angewiesen. Wir fürchten aber, dass die internationalen Geber aus Frust über die Situation und die unsichere Zukunft des Landes das Interesse an Afghanistan verlieren. Wir müssen täglich große Hürden überwinden, um unsere Arbeit leisten zu können. Dennoch sind wir entschlossen, weiterzumachen.


Ist Ihre Arbeit für Sie persönlich gefährlich? 

Humaira Rasuli: Wir haben aufgrund unserer Aktivitäten eine gewisse Bekanntheit, was vorteilhaft ist, aber in einem konfliktreichen Land wie Afghanistan auch Gefahren mit sich bringt. Unsere Arbeit soll allein den Frauen zugutekommen und hat das Ziel, Hoffnung, Frieden und Sicherheit zu bringen. Leider erhalten wir unaufhörlich Drohungen von denen, die unsere Arbeit ablehnen und fürchten, ihre Kontrolle und Macht zu verlieren. 

 

Humaira Rasuli ist die Direktorin der Frauenrechtsorganisation Medica Afghanistan.
info@medica-afghanistan.org

 

Saifora Paktiss ist die stellvertretende Direktorin der Frauenrechtsorganisation Medica Afghanistan.
info@medica-afghanistan.org

 

Links

Medica Afghanistan:
http://www.medicaafghanistan.org

Auf Facebook:
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