Fußball-WM

Wirtschaftliche Not

In Brasilien protestieren die leidenschaftlichsten Fußballfans der Welt gegen die erste WM in ihrem Land seit 64 Jahren. Der Grund: Die Menschen sind tief enttäuscht über die Regierung, die ihre Versprechen nicht gehalten hat.
Proteste gegen die WM in São Paulo am 15. Mai. Ken Satomi/picture-alliance/AP Images Proteste gegen die WM in São Paulo am 15. Mai.

Als Präsidentin Dilma Rousseff vor drei Jahren an die Macht kam, setzten die Menschen große Hoffnungen in sie. Sie versprach, die schlechten Gesundheits-, Bildungs- und Sozialhilfesysteme zu reformieren, die Kriminalität zu bekämpfen und die Wohnungsnot zu lindern. Nichts davon hat sie bislang umgesetzt.

Die Unzufriedenheit der Bevölkerung hat sich mit dem Nahen der Fußball-WM am 12. Juni bis 13. Juli zugespitzt. Eigentlich sollte das Großereignis genauso wie die Olympiade 2016 die Wirtschaft durch Tourismus und durch neue Investitionen ankurbeln. Allerdings glauben viele Brasilianer, dass ein Großteil der Ausgaben in Höhe von 11 Milliarden Dollar verschwendet wurde – einschließlich der 4 Milliarden Dollar für den Neubau und die Instand­setzung von Fußballstadien.

Nicht nur die Regierung, sondern auch der Weltfußballverband Fifa wird für das Debakel verantwortlich gemacht. „Die Fifa und die Regierung haben es fertiggebracht, die fußballbegeisterten Brasilianer von dieser WM zu entfremden", sagt Thomas Fatheuer, ehemaliger Leiter des Brasilien-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung.

Zwar haben die landesweiten Proteste seit vergangenem Jahr etwas nachgelassen. Doch befürchten viele Beobachter, dass das Land weiter ein Pulverfass bleibt und es nur einen Funken braucht, um es zum Explodieren zu bringen. Noch wenige Wochen vor der WM setzte die Polizei Tränengas gegen Demonstranten ein, die bessere öffentliche Leistungen forderten.

Am schlimmsten finden die Menschen, dass mehr als 15 000 Familien – oft gegen ihren Willen – umgesiedelt oder zwangsgeräumt wurden, um Platz für neue Sta­dien zu schaffen. Viele Bewohner der städtischen Armenviertel, der Favelas, willigten anfangs freiwillig in eine Umsiedlung ein. Denn ihnen wurden bessere Häuser oder andere Kompensationen versprochen. Aber umgesetzt worden sei das nie im versprochenen Umfang, sagte
Fatheuer bei einem Pressegespräch, zu dem ENGAGEMENT GLOBAL im Mai nach Berlin eingeladen hatte.

Brasiliens öffentliche Infrastruktur muss dringend verbessert werden. Viele Bürger sind der Meinung, dass zu viel Geld in Fußballstadien fehlinvestiert worden ist. Brasilianische Fußballvereine hatten bereits angekündigt, dass sie die Spielstätten nach der Weltmeisterschaft nicht nutzen wollten, berichtet Jens Weinreich, Sportjournalist und Buchautor.

Hauptauslöser der Proteste war aber Verzweiflung über die wirtschaftliche Lage. Die Preise steigen derzeit um sechs Prozent jährlich, und hohe Zinsen könnten das Wirtschaftswachstum bremsen. Laut Schätzungen wird die Wirtschaft dieses Jahr um weniger als zwei Prozent wachsen.

Präsidentin Rousseff versucht die Inflation mit Maßnahmen zu bekämpfen, die Ökonomen auf Dauer nicht für nachhaltig ansehen. Sie hat etwa die Benzinsteuer gestrichen, Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel gesenkt, die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel gekürzt und die Strompreise subventioniert. Ihre Kritiker meinen, dass sie dies alles nur im Hinblick auf die in wenigen Monaten anstehende Präsidentschaftswahl gemacht hat.

 

Arme neue Mittelschicht

Die Regierung jubelt stets Brasiliens wachsende Mittelschicht in den Himmel. Aber laut Fatheuer von der Böll-Stiftung ist dies „ideologischer Rauch": Menschen mit einem Monatseinkommen von 100 bis 350 Euro zählen bereits zur neuen Mittelschicht. Diese „können sich nun vielleicht einen Fernseher leisten, aber das wird ihre Lebens­umstände nicht dramatisch verändern", sagte er. „Brasilien ist kein Billigland."

Die Hoffnung auf große Tourismus-Umsätze dürfte auch enttäuscht werden. Viele Fußball-Fans werden die WM meiden, weil sie Sorgen wegen ihrer Sicherheit haben, die Visa zu langsam bearbeitet werden, es an Hotels nahe den Sportstätten fehlt und die Infrastruktur miserabel ist. Wie schlecht die Stimmung in Brasilien ist, bringt Fußball-Legende und WM-Ikone Pelé zum Ausdruck. Seiner Meinung nach sei die Situation „eine Schande", sagte er jüngst in der Sport-Bild

Ellen Thalman

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