Traumata
Knoten im Kopf lösen
13 Frauen und Männer stehen eng zusammen im Kreis. Alle heben die Arme und schließen ihre Augen. Jede Hand sucht eine fremde Hand im Kreis. Es dauert eine Weile – viel Suchen, viel Lachen.
Endlich gibt die Spielleiterin das Signal zum Augenöffnen. Ein kompliziertes Knäuel ist entstanden, das es zu lösen gilt, ohne einander loszulassen. Mit Beharrlichkeit löst die Gruppe Windung um Windung. Gemeinsam wird probiert, diskutiert, drüber- und druntergeklettert. Jede und jeder ist wichtig, eine Lösung kann nur gemeinsam gefunden werden. Alle achten, ohne dass dies extra gesagt werden musste, auf die körperlichen Grenzen der anderen. Manchmal scheitert eine Lösung an zu kleinen Öffnungen der Arme für die verknoteten Körper. Dann heißt es von Neuem beginnen.
Endlich gelingt es: Der Knoten ist gelöst. Die Gruppe findet sich handhaltend geschlossen im großen Kreis – jubelt, hüpft und beginnt zu singen. Gleich noch einmal. Die Übung ist Teil einer jeweils achtwöchigen Ausbildung zum Thema „Sport und Bewegung nach Traumata“ bei der Young Women’s Christian Association of the DR Congo (YWCA-DRC), einer Nichtregierungsorganisation. Die YWCA-DRC hat ein Büro mit 17 Leuten in Kinshasa. Dazu kommen kleine, ehrenamtlich geführte Büros in anderen Regionen. Der Verein hat insgesamt rund 500 Mitglieder.
„YWCA-DRC hat die umfassende Entfaltung von Mädchen, Frauen und Gemeinschaften im Blick“, sagt Generalsekretärin Bibiche Kankolongo. „Mit Sport wollten wir einen neuen Bereich erschließen, weil Wohlbefinden auch mehrere körperliche Aspekte einbezieht“, meint Kankolongo. YWCA-DRC will Mädchen, Frauen und Männern einen Weg anbieten, um Bewusstsein über ihren Körper zu gewinnen und die Selbstachtung ebenso wie Seele und Geist zu stärken. Das geltende Prinzip lautet: „Was zählt, ist mein Wohlbefinden.“ Ausgehend von diesem Anliegen ist YWCA-DRC seit 2013 Partnerorganisation von Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst im Rahmen des Programms Ziviler Friedensdienst (ZFD) und wird von einer ZFD-Fachkraft unterstützt.
Schwieriger Alltag
In der Demokratischen Republik Kongo, einem krisengeschüttelten Staat, fast sieben Mal so groß wie Deutschland, sind Erfahrungen mit Gewalt alltäglich. Im Gebiet der großen Seen im Osten des Landes kommt es immer wieder zu Massenvergewaltigungen von Frauen, Mädchen und auch Jungen durch so genannte Rebellengruppen. Korruption, Ausbeutung, traumatisierte Erschöpfung sowie das Ringen um minimale Einhaltung demokratischer Rechte bei häufig miserabler Gesundheitsversorgung sind für die Mehrheit der Bevölkerung auch in der Hauptstadt Kinshasa lebensbestimmend.
Die Menschen sind von den Widrigkeiten des Alltags erschöpft, der von Transportproblemen, Krankheiten, Regengüssen und Angst vor körperlicher Gewalt oder Übergriffen durch Behörden bestimmt ist. Und überall fehlt Geld – wenn es um Wasser, medizinische Behandlungen, Strom, Transportkosten, Telefoneinheiten oder um Arbeitsplätze geht.
Bewegung oder Sport kann befreien, ordnen, aufmuntern und stärken, aber auch unterdrücken und Rollen öffnen oder festschreiben. Dies gilt überall, doch insbesondere in einem Land wie der DR Kongo. Da alle Lebenserfahrungen ganz unmittelbar mit dem Körper zusammenhängen, können schlechte Erfahrungen sogar verfestigt und damit weiter abgespalten werden, also schlimmstenfalls zu Retraumatisierungen führen. Oder sie können stattdessen behutsam geheilt werden.
Viel zu häufig wird in europäischen Staaten ebenso wie in der DR Kongo ein Sport praktiziert, der pädagogisch, politisch und religiös erwünscht ist. Bewegungsmuster manifestieren sich im Körper, bis das Bewusstsein von der Richtigkeit überzeugt scheint und keine offenen Fragen mehr stellt. Dies wird etwa im kongolesischen Schulsport sichtbar, der 55 Jahre nach der Unabhängigkeit aus belgischer Kolonialherrschaft noch immer in eher autoritärer Manier Kinder drillt – vergleichbar mit dem ehemals preußischen Erziehungsideal. Die Jungen dürfen dabei meistens mehr als die Mädchen frei toben und spielen.
Eine andere Bewegungs- und Sportkultur, die auf Emanzipation und Veränderung nicht zuletzt der Geschlechterrollen abzielt, hat viele Elemente zu bieten. Sie kann sich zudem mit vielen Traditionen eines Landes verknüpfen wie beispielsweise Musik und Tanz in der DR Kongo. Viele Frauen und Männer konnten sich damit eine tiefe Lebensfreude erhalten und verfügen über viel Widerstandskraft.
Bibiche Kankolongo formuliert es so: „Der Sport ist ein großes Instrument des Friedens, das wir nutzen können, um Gemeinschaften und Personen im Konflikt miteinander zu versöhnen.“ Wenn man zusammen Sport treibt, überwinde man Barrieren und Feindschaften. Sie sieht eine Beziehung zwischen Sport und Frieden. Man brauche äußeren und inneren Frieden, um Sport auszuüben.
Das Sportprojekt des YWCA-DRC hatte einige Startschwierigkeiten. Nach drei Monaten wurde bereits überlegt, es aufzugeben. Es gab Raum- und Materialschwierigkeiten sowie kulturelle und altersmäßige Differenzen. Doch die Beteiligten blieben am Ball. Sie fanden zwar keinen bezahlbaren Raum. Stattdessen nutzten sie einen knapp zehn Quadratmeter großen, ungemütlichen YWCA-DRC-Raum. Dort führte Susanne Bischoff mit jeweils sieben bis zwölf Frauen der Schneidereiausbildung kleine Rhythmus-, Koordinierungs- und Rückenübungen durch.
Doch die Resonanz bei einigen Frauen war zunächst frustrierend: „Ich bin müde nach der Arbeit, habe Durst, Hunger.“ Es brauchte einige Wochen, bis Ideen für Veränderungen kamen: Statt im Stehen begannen die Teilnehmerinnen die Übungen im Sitzen auf Stühlen. Dies gelang besser. Der Stuhl steht auch für Sicherheit und Rückzugsmöglichkeit, denn ein Teil der Frauen hat schwere Traumata durchlitten. Er wurde somit therapeutisches Hilfsmittel, mit dem die Frauen lernen konnten, aufzustehen und sich neu, frei zu platzieren. Auch für mehr Wasser wurde gesorgt.
Es ist viel entstanden – auch wenn es wie ein Tropfen auf dem heißen Stein erscheint. Seit 2013 besteht eine Schwimmgruppe, die immer wieder neue Teilnehmende findet. Zwei jeweils achtwöchige Ausbildungsgruppen zum Thema „Sport und Bewegung zur Stabilisierung nach Traumata“ wurden erfolgreich durchgeführt. Dazu kommen bisher drei Seminare in WenDo, einer Form feministischer Selbstverteidigung und Selbstbehauptung. 2016 sind weitere Kurse in Kinshasa und in Partnerprojekten südlich der Hauptstadt geplant. Eine Rückensportgruppe für alle trifft sich in einem schönen Saal des Maison de France, das zum französischen Kulturinstitut „Institut français“ gehört. Außerdem gibt es eine erste Gruppe „Sport nach Brustkrebs für Frauen“. Der wöchentliche Teamsport bei YWCA-DRC bereitet den Frauen inzwischen viel Freude, und sie nutzen Igel-, Pezzi-, Volley- oder Weichschaumbälle sowie Gymnastikmatten und ein Mini-Trampolin für kleine Bewegungspausen.
Kann Sport tatsächlich zum Frieden beitragen? Missbrauch und Korruption, Doping-Skandale und rechte Hooligans in Europa sprechen eine andere Sprache. Aber die Arbeit von Bibiche Kankolongo und ihrem Team zeigt Wirkung: „Selbstachtung und Selbstvertrauen der Teilnehmenden nehmen zu“, versichert sie. Auch Ausdauer und die körperliche Verfassung insgesamt würden besser. Einige Teilnehmende spürten Besserung in Bezug auf Schmerzen und Krankheiten. „Zudem sind Teamgeist und persönliche Beziehungen gestärkt. Der Sport wird als ein Moment des Glücks und des Abbaus von Stress gelebt“, versichert Kankolongo.
Wenig Kosten, große Wirkung
Auch UN-Generalsekretär Ban Ki-moon ist von der entwicklungspolitischen Wirkung überzeugt. „Sport hilft, Stigmatisierung abzubauen und die soziale und wirtschaftliche Integration von Marginalisierten, Minderheiten und Menschen mit Behinderungen zu fördern“, sagte er im April 2014 bei der Veranstaltung „Celebrating Sport for Development and Peace“ in New York. Mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln kann große Wirkung erzielt werden. Ban Ki-moon fasst zusammen: „In short, sport is a low-cost, high-impact tool“ – wenig Kosten, große Wirkung.
Auch die Mitarbeiterinnen von YWCA-DRC sind vom Erfolg ihrer Arbeit überzeugt. Sie erleben bei ihren Teilnehmenden Augenblicke des Friedens, der mehr ist als die zumindest vorübergehende Abwesenheit vom täglichen Kampf ums Überleben. Beim Miteinander im Sport strahlen die Menschen eine innere Kraft aus, und Hoffnung leuchtet in ihren Augen. Sport und Bewegung geben Kraft für den nächsten Augenblick und können die durch Traumata verursachten Knoten im Kopf langsam lösen helfen.
Susanne Bischoff ist als Dipl.-Sportlehrerin und Bewegungstherapeutin auf psychische Probleme spezialisiert. Sie arbeitet seit Juli 2013 als Fachkraft bei der Young Women’s Christian Association of the DR Congo (YWCA-DRC), vermittelt von Brot für die Welt-Evangelischer Entwicklungsdienst im Programm Ziviler Friedensdienst. Das Projekt wird unter anderem vom Fußballbundesligisten Werder Bremen unterstützt.