Entwicklungsdiskurs
Untragbarer westlicher Exzeptionalismus
Der Begriff „Entwicklung“ hat eine lange und problembeladene Geschichte. Vor dem Ersten Weltkrieg behaupteten die Kolonialmächte, Zivilisation in die von ihnen kontrollierten Regionen zu bringen und sie „zu entwickeln“. Als Modell für eine erfolgreiche Entwicklung diente der Westen. Ziel war es, wirtschaftliches Wachstum und – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – repräsentative Demokratie zu fördern. Das Versprechen lautete, dass die westliche Lebensweise nicht nur wünschenswert, sondern auch erreichbar sei. Das ist ein Mythos, wie der brasilianische Ökonom Celso Furtado schon vor langer Zeit betonte. Dennoch klammern sich sowohl bilaterale als auch multilaterale Hilfsorganisationen immer noch daran.
In Wahrheit werden „Entwicklungsländer“ nie denselben Lebensstandard wie „entwickelte Länder“ erreichen. Das liegt nicht an ethnischen, kulturellen oder institutionellen Unterschieden. Ein Aufholen ist unmöglich, weil die wirtschaftliche Entwicklung Westeuropas und Nordamerikas schon immer auf „ökologischem Exzeptionalismus“ beruhte. Das ist weiterhin so und kann nicht einfach überall reproduziert werden.
Seit dem Beginn der industriellen Revolution im 18. Jahrhundert hat Westeuropa beträchtliche materielle Fortschritte gemacht. Lange war es das Zentrum des Weltsystems, bis es nach dem Zweiten Weltkrieg die Führung an Nordamerika übergab. Für die Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika würde das Erreichen des Lebensstandards, den ein durchschnittlicher Europäer oder Nordamerikaner genießt, ein ähnliches Maß an Konsum bedeuten – oder genauer gesagt: Verschwendung globaler Ressourcen. Das ist schlicht unmöglich. Wenn alle Bewohner der Erde so viel konsumieren würden wie ein durchschnittlicher EU-Einwohner, brauchten wir 2,8 Planeten, stellte der WWF 2019 fest. Wir haben aber nur einen. Nach Angaben der internationalen Umweltschutzorganisation beherbergt die EU nur sieben Prozent der Weltbevölkerung, verbraucht aber fast 20 Prozent der Biokapazität des Planeten.
Bedeutet die Unmöglichkeit des Aufholens, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung zu einem Leben in Armut und unter der Last der Ungleichheit verdammt ist? Nein, ganz und gar nicht. Die angemessene Schlussfolgerung ist, dass der ökologische Exzeptionalismus der westlichen Zivilisation nicht tragfähig ist. Er kann nicht das Modell für den Rest der Welt sein.
Es wird nicht einfach sein, die Idee von Entwicklung vom Materialismus zu befreien. Es muss mehr getan werden, als nur politisch korrekte Adjektive wie „nachhaltig“, „inklusiv“ oder „armutsorientiert“ zum Substantiv „Entwicklung“ hinzuzufügen.
Das heißt nicht, dass wir die Leitprinzipien der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs) fallenlassen sollten. Sie beinhalten, „niemanden zurückzulassen“, „den Hunger zu beenden“ und „öffentliche Gesundheit zu sichern“. Sie sind gültig, aber nichts davon kann erreicht werden, wenn man jedes Land in so etwas wie Deutschland, Frankreich oder die USA verwandelt.
Die Idee von Entwicklung muss entwestlicht werden. Wir brauchen eine andere Zivilisation. Sie muss auf dem vernünftigen Management von Umweltressourcen, Solidarität zwischen den Völkern der Welt und – was am wichtigsten ist – auf der Gleichheit aller Menschen beruhen. Trotz der drängenden Herausforderung des Klimawandels sind die Anfänge einer solchen politisch-ethischen Revolution auf der ganzen Welt sichtbar. Es ist ermutigend zu sehen, wie die Statuen, die das Vermächtnis der Sklavenhändler und imperialistischen Unterdrücker feiern, in vielen Ländern, insbesondere in Westeuropa und Nordamerika, fallen.
Ndongo Samba Sylla ist Programm- und Forschungsleiter im Westafrika-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Dakar.
Twitter: @nssylla