Globale Trends
Entwicklung dringend benötigt
In den vergangenen 60 Jahren fand eine nie dagewesene ökonomische Entwicklung statt. Das weltweite Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf ist heute 25 Mal höher als 1960. Zum Vergleich: Das globale Pro-Kopf-Einkommen stieg zwischen dem 11. Jahrhundert und 1950 nur um ein 15-Faches. Diese Zahlen stammen aus einem Buch dreier prominenter Ökonomen (Kanbur, Norman, Stiglitz, 2019). Afrika aber hinkt mit seinem Pro-Kopf-Einkommen, das heute lediglich 12 Mal höher ist als 1960, hinterher. Der Kontinent hat viel nachzuholen.
Nicht nur Umweltschützer warnen, dass einige Errungenschaften in der Welt nicht nachhaltig sein könnten. Die Weltbevölkerung wächst (siehe Schwerpunkt im E+Z/D+C e-Paper 2020/03), die Menschen leben durchschnittlich länger, und der Konsum steigt. Natürliche Ressourcen sind erschöpft, das Ökosystem überstrapaziert. Marktransaktionen spiegeln selten die echten ökologischen Kosten wider, und die Frage ist, ab wann ein konsumorientierter Lifestyle nicht mehr zu verantworten ist.
Die globalen Bedingungen für wirtschaftliche Expansion haben sich auch anderweitig verschlechtert. Von populistischen Regierungen geförderter Protektionismus macht es schwierig, wenn nicht unmöglich, dem Beispiel des exportgetriebenen Wachstums zu folgen, von dem viele ostasiatische und einige afrikanische Länder profitierten. Große Ungleichheit kennzeichnet nicht nur die Weltgemeinschaft, sondern auch Weltregionen und sogar einzelne Länder. Viel zu viele Menschen müssen ohne Zugang zu Gesundheitssystemen, formaler Bildung, menschenwürdiger Arbeit und angemessenen Wohnverhältnissen auskommen. Die Covid-19-Pandemie zeigt, wie wichtig diese Dinge sind. Jene, die keinen Zugang zu diesen Basisleistungen haben, trifft die Krankheit am ehesten.
In den vergangenen Jahrzehnten ist Afrika enorm gewachsen. Sechs der zwischen 2000 und 2020 am schnellsten expandierenden Länder befinden sich in Afrika. Das Wachstum geschah jedoch ungleich – auf dem Kontinent wie innerhalb der Länder. Zudem beruhte es hauptsächlich auf Rohstoffexporten in ein einziges Land: China. Das zeigt, dass afrikanische Staaten wenig Mehrwert schaffen, nicht diversifizieren und es ihnen an Kompetenz fehlt – was sie anfällig für Schocks von außen macht. Sie konnten bislang keinen breit angelegten Wohlstand schaffen; soziale Sicherheitssysteme sind in dieser Weltregion meist schwach. Besonders drastisch ist es da, wo gewaltsame Konflikte und Kriege Entwicklung blockieren.
Generell gilt, dass Afrikas Produktivität eher gering ist und die allermeisten Menschen informell beschäftigt sind. Wirtschaftliches Wachstum als solches reicht offenbar nicht aus, um den Kontinent zum Florieren zu bringen (siehe Hans Dembowski im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Papers 2020/03). Volkswirtschaften müssen diversifizieren, und dafür brauchen sie ein förderliches institutionelles Umfeld. Für das Gedeihen formeller Arbeitsplätze bedarf es etwa besserer Sozialleistungen. Menschen brauchen Zugang zu Gesundheit und Bildung, ansonsten können Unternehmen nicht das Maß an qualifizierten Fachkräften aufbauen, um produktiv zu sein.
Der Human Development Index (HDI), den die UNDP auf Basis von Indikatoren wie Gesundheit, Bildung und Einkommen erstellt (siehe Interview mit Achim Steiner im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Paper 2020/09), belegt, dass Afrika ein ziemlich armer Kontinent ist. Von 36 Ländern mit niedrigem HDI liegen 33 in Afrika.
Statistiken der Weltbank zeigen denselben Trend: 27 der 28 ärmsten Länder der Welt liegen im südlichen Afrika. In Asien wurde Armut schnell gesenkt, in Afrika ist sie hingegen gestiegen. Die Weltbank vermutet, dass die Anzahl extrem armer Menschen (mit einer Kaufkraft unter 1,90 Dollar pro Kopf) von 278 Millionen im Jahr 1990 auf 413 Millionen bis 2015 stieg. Sie prognostiziert, dass 90 Prozent der Armen der Welt bis 2030 in Afrika leben.
Solche Zahlen sind alarmierend und verdeutlichen, dass Afrika Entwicklung braucht: Die Länder müssen rasch ihre Volkswirtschaften diversifizieren und fähige öffentliche Institutionen einrichten, denn ungeplanter, chaotischer Wandel vollzieht sich rasant. Massen von Menschen ziehen in die Städte. Schätzungen zufolge verdoppelt sich Afrikas Bevölkerung zwischen 2010 und 2030 von 400 auf 800 Millionen Menschen – und bis 2050 um weitere 400 Millionen auf 1,2 Milliarden. Es ist beunruhigend, wie wenig dafür getan wird, Infrastrukturen und soziale Dienstleistungen aufzubauen, die lebenswerte Städte brauchen. Zugleich fehlt auch ländlichen Gegenden die Infrastruktur – nur werden diese von der Politik noch weniger beachtet. Handeln ist gefordert, und wirtschaftliches Wachstum allein reicht nicht.
Nur auf Wachstum ausgerichtete Politik ist aus zwei weiteren Gründen falsch:
- Das BIP zählt nur monetäre Transaktionen. Nicht-monetarisierte Wertschöpfung – etwa durch Subsistenz-Landwirtschaft oder Pflegetätigkeit innerhalb der Familien – spielt im Leben der Menschen eine große Rolle, bildet sich aber nicht in wirtschaftlichen Statistiken ab.
- Das Pro-Kopf-Einkommen bildet nicht die enorme Ungleichheit von Einkommen und Wohlstand ab. Oft misst es lediglich den Fortschritt wohlhabender Städter und suggeriert, alle profitierten davon – selbst wenn Arme tatsächlich wenig besser oder gar schlechter leben. Dem UNU-WIDER (World Institute for Development Economics Research) zufolge erwirtschaften die unteren 50 Prozent weniger als zehn Prozent des nationalen Einkommens in Afrika, die oberen zehn Prozent hingegen mehr als 50 Prozent.
Quelle
Kanbur, R., Noman, A. und Stiglitz, J. E., 2019: The quality of growth in Africa. New York, Columbia University Press.
Belay Begashaw ist Generaldirektor des Zentrums für Nachhaltige Entwicklungsziele für Afrika (SDGC/A) in Kigali, Ruanda. Im Zuge einer unabhängigen Evaluierung nach Mitarbeiterbeschwerden ist er derzeit freigestellt. Unabhängig vom Ausgang der Evaluierung hält die Redaktion seinen Essay für stimmig.
bejigu@yahoo.com