Koloniales Erbe

Kein Land in Sicht

Trotz der Unabhängigkeit seit 1990 ist Landbesitz in Namibia noch immer nicht gerecht verteilt und die kolonialen Strukturen wirken nach. Die ehemalige Befreiungsbewegung South West African People’s Organization (SWAPO) ist an der Regierungsmacht und steht unter Druck, die Landfrage zu lösen. Der Prozess zeigt die Grenzen nachkolonialer Umgestaltung ebenso auf wie die Schwierigkeit, angesichts der komplexen Situation eine halbwegs zufriedenstellende Lösung zu finden.

Von Henning Melber
Als Folge der Kolonialzeit sind die meisten kommerziellen Farmer in Namibia noch immer weiß. Eine Landumverteilung an benachteiligte Bevölkerungsgruppen funktionierte bislang nicht wirklich. Peter Frischmuth/Argus Als Folge der Kolonialzeit sind die meisten kommerziellen Farmer in Namibia noch immer weiß. Eine Landumverteilung an benachteiligte Bevölkerungsgruppen funktionierte bislang nicht wirklich.

Mit der Unabhängigkeit verband die ehemals kolonisierte Bevölkerung die Erwartung, dass sich ihre Lebensbedingungen merklich verbessern und gesellschaftspolitische sowie sozialökonomische Veränderung stattfinden. Die Landfrage war dabei ein prominenter Aspekt, der die Notwendigkeit zur Umverteilung des Wohlstandes unterstrich.


Mit dem Prozess der Dekolonisierung vollzog sich aber nur ein Machttransfer von begrenzter Souveränität. Dieser ließ keine uneingeschränkte Verfügungsgewalt über die Veränderung der Wirtschaftsstrukturen zu. Die Respektierung festgelegter Verfassungsprinzipien war eine Vorbedingung für den unabhängigen Staat. Das damit geschaffene Recht entsprach keineswegs dem Rechtsbewusstsein der Bevölkerungsmehrheit. Es verankerte vielmehr den Schutz des bestehenden Privateigentums. Dieses war aber oft Ergebnis kolonialen Unrechts, und die Eigentümer hatten es durch Landnahme und Enteignung erworben. Viele Menschen empfanden Rechtssicherheit deshalb als Sicherheit des Rechts von Minderheiten, deren Privilegien weitgehend erhalten blieben. Landeigentümer hatten Anspruch auf den Schutz ihres Grunds und Bodens, wobei die moralische und ethische Grundfrage irrelevant blieb, wann und unter welchen Umständen Besitztitel erworben wurden.


Territoriale Neuordnungen


Komplizierter macht es noch die Tatsache, dass die Verfügungsgewalt über Land im Laufe der Geschichte keinesfalls unwiderruflich festgeschrieben war. Im südlichen Afrika fanden wie anderswo auch intensive Migrationsprozesse und damit verbunden gewaltsame Landbesetzungen schon vor der europäischen Kolonialzeit statt, und die Territorien wurden mehrfach neu verteilt. Alle Bevölkerungsgruppen außer den Buschleuten sind in das heutige Staatsgebiet Namibias irgendwann eingewandert und haben sich dort meist nicht ganz friedlich niedergelassen. Der Aphorismus, dass Hochverrat eine Frage des Datums sei, gilt auch hinsichtlich der Frage, wer ab wann legitime Rechte auf „angestammtes“ Land hat.


Damit soll keinesfalls den Nachfahren der europäischen Kolonialisten ein Hintertürchen geöffnet werden, durch das sie bequem hinausschlüpfen können. Es ist nicht hinfällig, dass sie sich mit der kolonialen Unterwerfung und ihren Folgen auseinandersetzen. Dass Deutschland 2015 schließlich die Massaker deutscher Truppen an den Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 als Völkermord anerkannt hat, mussten sich die Nachfahren der betroffenen Volksgruppen hart erkämpfen.


Dennoch bleibt die Suche nach dauerhaften Lösungen in der Landfrage eine komplexe und schwierige Aufgabe. Mit dem Problem, wie sich eine Landumverteilung am geeignetsten und gerechtesten initiieren ließe, sah sich schon 1991 die erste und bislang einzige nationale Landkonferenz Namibias konfrontiert. Sie beschloss, dass eine vollständige Restitution von Land angesichts der historischen Komplexitäten unmöglich sei.

Landreform mit Widersprüchen


Restriktive klimatische Bedingungen zeigen die engen Grenzen einer ökonomisch sinnvollen Landreform auf. Zwei Drittel der 824 000 Quadratkilometer Landesfläche gelten als semi-arid, ein Viertel als arid. Etwa 44 Prozent der Landesfläche Namibias ist privater Landbesitz mit eingezäuntem Farmland. 60 Prozent dieses kommerziellen Farmlandes (das weitgehend für Viehhaltung mit extensiver Weidewirtschaft genutzt wird) hat eine jährliche durchschnittliche Niederschlagsmenge von unter 300 Millimetern. Dessen – zum Teil auch ausländischen – knapp 5000 Eigner sind zumeist noch immer weiß und oftmals deutschsprachig.


Nur etwa acht Prozent Namibias eignen sich mit einem durchschnittlichen jährlichen Niederschlag ab 500 Millimetern für Landwirtschaft ohne Bewässerung. Sie liegen überwiegend in den 43 Prozent der kommunalen Landgebiete in Gemeinschaftseigentum. Doch diese werden zunehmend durch Einzäunung der kollektiven Nutzung entzogen und de facto privatisiert – ein klarer Verstoß gegen die von der Landkonferenz 1991 gefassten Beschlüsse. Die widerrechtliche Aneignung wurde bislang von den Behörden weitgehend toleriert – wohl auch weil ein erheblicher Teil der Schuldigen zum Staatsapparat oder der Parteiführung gehört. Falls die Regierung und die lokalen traditionellen Autoritäten dies weiterhin dulden oder sogar betreiben, wird sich die Lage der ländlichen Bevölkerung insgesamt verschlechtern und die Landflucht voranschreiten.


Bislang nahm die Landreform einen zögerlichen und schleppenden Verlauf. Die Regierung verschwendete viel Zeit auf rechtlich-administrative Debatten. Eine klare politische Strategie für den Transfer von Land und die Ansiedlung von Menschen mit dauerhafter Aussicht auf eine Existenzsicherung fehlt. Als Umverteilungsmaßnahme wurde das „Willing seller – willing buyer“-Prinzip angewendet, nach dem die Regierung Farmen mit Vorzugsrecht zum Marktwert erwerben kann. Auf den Farmen sollten Bewerber aus den historisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen angesiedelt werden. Dies hat jedoch seither kaum zu Resultaten geführt. Demgegenüber wurden Angehörige der neuen politischen Elite beim Kauf privilegiert, was bereits Mitte der 1990er Jahre Beobachter sarkastisch damit kommentierten, dass die Landreform bereits vollzogen sei, da die meisten Kabinettsmitglieder inzwischen ihre Privatfarmen hätten.


Sehr langsam vollzog sich hingegen der Ankauf von Land zur Ansiedlung von Landlosen. Bis Mitte der 1990erJahre hatten die Behörden erst etwa 100 000 Hektar erworben und bis 2000 insgesamt 54 Farmen mit einer Gesamtfläche von 341 000 Hektar aufgekauft. Ernüchternd waren auch die bisherigen Ergebnisse der Umsiedlungsprojekte. Die meisten Neuansiedler blieben auf die Versorgung mit Nahrungsmitteln angewiesen, erhielten keine adäquate Hilfestellung beim Versuch, sich selbst zu versorgen, und konnten das Minimalziel einer gesicherten Existenz nicht erreichen. In vielen Fällen sind die Umgesiedelten von staatlicher Hilfe abhängig, und die Infrastruktur auf den Ländereien verfiel. Aufschlussreich ist auch, dass weder die vom Kabinett 1998 verabschiedete offizielle Strategie zur Armutsreduzierung noch das National Poverty Reduction Action Programme für 2001 bis 2005 eine Landreform erwähnt.


Politik mit Land


Sehr viel wird davon abhängen, wie die krassen gesellschaftlichen Ungleichheiten einer neuen, nachkolonialen Klassengesellschaft mit einer schwarzen Elite am staatlichen Steuer reduziert werden. Die Annahme, dass eine Landreform dies bewerkstelligen könnte, ist illusorisch. Dennoch lässt sich eine solche weitverbreitete Wahrnehmung nicht wirklich entkräften, solange die ungleiche Landverteilung an das koloniale Erbe erinnert. Doch würden deutliche Erfolge in der Armutsreduzierung sowohl die symbolische Bedeutung der Landfrage relativieren als auch die Frustration über ausbleibende Veränderungen mindern.


SWAPO erklärte 2012 die Landfrage zur Priorität. Seither wurde der öffentliche Diskurs von wechselseitiger Schuldzuweisung geprägt. Namibias Politiker bezichtigen die kommerziellen Farmer der Sabotage, da sie ihr Land nicht zu akzeptablen Preisen verkaufen wollen. Derweil legt deren Interessenverband Statistiken vor, denen zufolge die Landumverteilung durchaus den von der Regierung gesteckten Zielen entsprechen würde. Solche Zahlenspielereien sind allerdings kein probates Mittel gegenüber einem zutiefst emotionalen Thema, das mit Identität und Ohnmachtsgefühlen verbunden ist.


Auch die Regierung muss dies zunehmend spüren. Eine ursprünglich für 2016 angesetzte zweite nationale Landkonferenz wurde verschoben und soll in diesem Jahr stattfinden. Sie wird vermutlich alles andere als harmonisch verlaufen und die Interessenunterschiede deutlich zutage treten lassen.


Aber auch die laufenden bilateralen Verhandlungen zwischen Deutschland und Namibia dokumentieren Unterschiede in der Landfrage. Bislang weigert sich die Bundesregierung, den Umverteilungsprozess von Land als eine zentrale Kompensationsleistung anzuerkennen und zu finanzieren. Unstrittig bei der Frage nach den Folgen der deutschen Kolonialherschaft ist aber, dass die heutige Landverteilung wesentlich auf diese Periode zurückgeht. Konfrontiert mit dem wachsenden Unmut in Teilen der Bevölkerung, hat die namibische Regierung bereits die Bereitschaft zu einer schärferen Gangart signalisiert. Dabei sollen auch Teile der Verfassung und die Freiwilligkeit des Landtransfers einer genaueren Prüfung unterzogen werden.

Henning Melber
ist Direktor emeritus der Dag Hammarskjöld Stiftung in Uppsala, Senior Research Associate am dortigen Nordic Africa Institute und Extraordinary Professor der Universitäten in Pretoria und Bloemfontein. Er ist seit 1974 SWAPO-Mitglied.
henning.melber@dhf.uu.se

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