Interview
„Angespannte Stimmung“
Das Militärgerichtsverfahren gegen den Blogger Maikel Nabil, der im April zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, hat international Schlagzeilen gemacht. Gibt es noch weitere solcher Fälle?
Ja, die Menschenrechtsorganisation El Nadeem schätzt, dass seit Mubaraks Sturz 7000 bis 10 000 Menschen verhaftet und 90 Prozent von ihnen von Militärgerichten zu ein bis sieben Jahren Haft verurteilt wurden. Dabei geht es wohl nicht nur um Politik. Human Rights Watch sagt, auch Kleinkriminelle seien betroffen. Es ist schwer, derlei zu beobachten, weil Angeklagte in Militärgerichtsverfahren keine Anwälte bekommen und Berufung gegen Urteile unmöglich ist. Einige Verhaftete kamen auf öffentlichen Druck hin wieder frei. Aber wenn Betroffene arm und ungebildet sind, keine festen Jobs und kaum Kontakte haben, verschwinden sie einfach aus dem öffentlichen Leben, und es ist unmöglich, für sie zu kämpfen.
Zersplittern die linken und liberalen Kräfte oder organisieren sie sich?
Mehrere Unternehmer sind dabei, säkulare, liberale Parteien zu gründen. Laut dem neuen Gesetz zur Gründung von Parteien dürfen diese nicht auf Religion oder Klasse beruhen. Sie benötigen 5000 Mitglieder und müssen die Namen in einer Zeitungsanzeige veröffentlichen, was etwa 500 000 Pfund (rund 60 000 Euro) kostet. Die Anmeldung selbst kostet dann noch mal 250 000 Pfund. Das ist viel Geld und zeigt, dass die Regierung nichts gegen liberale Parteien hat, aber nicht will, dass die Linke sich organisiert. Die gute Nachricht ist aber, dass die linksgerichteten Gruppen vor kurzem damit begonnen haben, zusammen zu arbeiten. Es sieht so als, als werde es für die Wahlen ein breites linkes Bündnis geben.
Warum kommt es immer wieder zu Gewalt zwischen Christen und Muslimen?
Sektiererische Spannungen sind gefährlich. Sie können jederzeit aufflammen, von Alexandria im Norden bis Assuan im Süden. Sorgen von Kopten sind begründet, sie stehen wirklich unter Druck. Zugleich sieht es aber so aus, als stifteten Sicherheitskräfte und Geheimdienste Ärger. Das Mubarak-Regime setzte auf „teile und herrsche“, und die aktuelle Regierung scheint diesem Muster zu folgen. Es fällt auf, dass oft zunächst Salafis – fundamentalistische Muslime – protestieren, Gewalt aber erst ausbricht, wenn die Sicherheitskräfte eingetroffen sind. Augenzeugen haben das aus Imbaba berichtet. Offenkundig schützen die Polizei und das Militär die Minderheit nicht – aber ihre Anwesenheit scheint Gewalttäter des anderen Lagers zu ermutigen. Das ist ein gefährlicher Trend. Es fällt auch auf, dass die Salafis plötzlich täglich in den Nachrichten vorkommen. Es gibt sie schon lange, aber so viel Aufmerksamkeit haben sie nie bekommen. Das sieht nach einer Kampagne aus, um die Bevölkerung zu spalten.
Zu Beginn der Revolution protestierten Christen und Muslime gemeinsam. Tun sie das noch?
Ja, es gibt kleine und große Demonstrationen. Dort, wo Gewalt aufgeflammt ist, zeigen örtliche Angehörige beider Glaubensrichtungen Hand in Hand ihre Solidarität. Viele wissen, dass sektiererische Gewalt kein Problem dieses Landes löst. Am 13. Mai waren mindestens 50 000 Menschen auf dem Tahrir-Platz. Die beiden Kundgebungsthemen waren Harmonie zwischen den Glaubensrichtungen und die Solidarität mit Palästina. Es gibt auch viele Streiks, aber die Medien berichten kaum darüber. Um davon zu erfahren, müssen Sie gut vernetzt sein.
Wer streikt?
Die wirtschaftliche Lage frustriert viele Menschen. Sie wollen mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen. Neulich haben sogar die Ärzte in öffentlichen Krankenhäuern gestreikt. Ihr Einstiegsgehalt beträgt monatlich nur rund 300 Pfund. Die Ärzte fordern, die Regierung soll 15 Prozent statt bisher nur 3,5 Prozent des BIP für das Gesundheitswesen aufwenden. Viele Kliniken sind in schlimmem Zustand. In den letzten Jahrzehnten wurde es so arg, dass eine aktuelle Redewendung besagt, jeder, der in ein öffentliches Krankenhaus eingeliefert wird, gehe „verloren“, und alle, die wieder entlassen werden, seien „neu geboren“. Die Krankenhäuser sind mehr zum Ort des Sterbens als des Genesens geworden. Die Menschen wollen, dass ihr Leben besser wird – aber bislang passiert dies nicht.
Die Euphorie der ersten Revolutionstage ist also vorbei?
Ja, die Stimmung im Land ist sehr angespannt.