Recht und Regierungsführung
Staatsaufgabe
Von Henning Melber
Der Kolonialstaat war ein brutales Unterdrückungsinstrument. Fremde Mächte enteigneten ganze Völker, sprachen aber zugleich gern vom „Entwicklungsstaat“ („developmental state“). Das passte zur Propaganda von Modernisierung und zivilisatorischer Mission. Diese Rhetorik ging mit autoritärer Herrschaft und geringer Rechtsstaatlichkeit einher. Jedenfalls wurden die Kolonialherren als individuelle Täter für Verbrechen, die sie an „Eingeborenen“ verübten, nur selten und bestenfalls milde bestraft.
Der Begriff „Entwicklungsstaat“ überlebte die Kolonialzeit, seine Verwendung blieb jedoch zweifelhaft. Vielfach diente er nur als populistisches Schlagwort, mit dem autoritäre Regierungen ihre Macht rechtfertigten. Sie versprachen Entwicklung – und dass Demokratie, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit später folgen würden. Tatsächlich beuteten neue Eliten unabhängig gewordene Länder aus, während von Demokratie, Menschenrechten und breiter Wohlstandsentwicklung jedes Zeichen fehlte.
Nur wenige postkoloniale Gesellschaften schufen anhaltendes Wirtschaftswachstum, steigenden Lebensstandard und schließlich auch Demokratisierung. Südkorea und Taiwan sind vermutlich die überzeugendsten Beispiele von Entwicklungsregimen, die als Diktaturen starteten, sich dann aber – nicht zuletzt auf den Druck breiter Bewegungen hin – zu relativ prosperierenden Demokratien wandelten. China und Vietnam hätten die Chance zu einem ähnlichen Kurs, aber ihr Weg ist noch weit. Jedenfalls beweist auch die Geschichte der asiatischen Tigerstaaten, dass Demokratie, Menschenrechte und soziale Sicherheit erkämpft werden müssen.
In den 1980er und 1990er Jahren breiteten sich Demokratiebewegungen auch in Teilen Afrikas aus. Sie waren eine Reaktion auf autoritäre Herrschaft und unerfüllte Entwicklungsversprechen. Zugleich waren sie aber auch ein Stück weit das Ergebnis geopolitischer Ereignisse – nicht zuletzt durch den Kollaps der Sowjetunion. Diktatorisch regierte Staaten gibt es zwar immer noch, aber sie sind seltener geworden.
Das Ende des Sozialismus Moskauer Prägung ging freilich mit einem weiteren problematischen Trend einher: Zeitweilig triumphierte der Washington-Konsens, dem zufolge marktgetriebenes Wachstum alle Entwicklungsprobleme lösen würde. Diese Doktrin schlug fehl und verursachte ihrerseits gewaltiges Leid.
Angeführt von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) zwang die Gebergemeinschaft arme Entwicklungsländer zu „Strukturanpassungen“. Meist machte diese Sparpolitik arme Gesellschaften nur noch ärmer. Es deprimiert, dass ähnliche Politikkonzepte heute Griechenland auferlegt werden, obwohl dort die Staatsschulden in den vergangenen zwei Jahren trotz der harten Rotstift-Politik, die EU und IWF durchsetzten, nur weiter angewachsen sind.
In den 1990er Jahren war dagegen selbst die Weltbank vom Marktradikalismus abgerückt. Ihr neues Paradigma hieß „Good Governance“ (Gute Regierungsführung). Ausformuliert wurde es im World Development Report von 1997 mit dem Titel „The State in a Changing World“. Kernpunkte waren:
– Ein leistungsfähiger öffentlicher Dienst,
– Bekämpfung von Korruption und Amtswillkür und
– Rechenschaft von Behörden gegenüber der Öffentlichkeit.
Das Dokument hielt fest: „In erfolgreichen Ländern ist die Politik in einen
Beratungsprozess eingebettet, der Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und Privatunternehmen Gelegenheiten zu Einfluss und Aufsicht gibt.“
Es lässt sich darüber streiten, in welchem Maß die Politik der Weltbank seither diesen Ansprüchen gerecht wird. Wertlos war das neue Paradigma aber nicht, denn es hat Geberpolitik in den vergangenen 15 Jahren geprägt. Das schlug sich nieder in den Schuldenerlässen der späten 1990er Jahre und der Aid-Effectiveness-Agenda, welche die Eigenverantwortung der Regierungen von Entwicklungsländern betont.
Politische Arena
Im Westen entstand der Staat als zentralisierte Institution mit einem zivilen Beamtenapparat – dem öffentlichen Dienst – infolge der Ausdifferenzierung von Politik und Wirtschaft. Sein Hauptmerkmal ist, dass er weder Individuen noch Gruppen gehört. Auch wenn er nie völlig neutral oder überparteilich agiert, beruht seine Legitimität auf dem Anspruch, zwischen konfligierenden Interessen zu vermitteln. Auch heute kultivieren Behörden das Image von Schlichtern, die versöhnend wirken, verschiedene Klassen in die Gesellschaft integrieren und im „öffentlichen Interesse“ handeln.
Politik ist per Definition konfliktreich. Ein Staatsapparat mit starker Verwaltung ist immer auch ein Instrument der Gesellschaftsgestaltung. Er entwirft, implementiert und überwacht auf seinem Territorium unter anderem sozioökonomische Programme.
Die Vereinten Nationen beruhen auf der Vorstellung, dass Völker souverän regierter Territorien von ihrem Staat innen- und außenpolitisch vertreten werden. Allerdings üben viele Regierungen Macht aus, ohne für die Mehrheit ihrer Bevölkerung zu sprechen. Selbst in Demokratien sind Regierungsmehrheiten oft nur knapp, weshalb Amtsinhaber in Neuwahlen auch immer wieder unterliegen. Es gibt keine Garantie dafür, dass eine Regierung wirklich im nationalen Interesse handelt. Letztlich spiegeln Staaten nur aktuelle Kräfteverhältnisse wider.
Der Staat ist also nie ein monolithischer Block, sondern vielmehr eine politische Arena. Es geht um Macht, sodass der Staat nie ein unparteiischer Schiedsrichter sein kann. Dennoch muss er antagonistische Kräfte bändigen und so weit versöhnen, dass eine Vorstellung von gemeinsamer Identität entsteht. Dafür ist Rechtsstaatlichkeit von zentraler Bedeutung – und es muss dabei um mehr als das Recht des Stärkeren gehen:
– Gesetze müssen auf einer Verfassung aufbauen,
– die Bürger brauchen Grundrechte, und
– die Justiz muss Gesetze ohne Ansehen der Person fair anwenden.
Zeitweilig können Wirtschaftswachstum und höhere Lebensqualität einem Staat Legitimität verschaffen, wie China in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt hat. Es steht auch fest, dass einflussreiche Wirtschaftsinteressen immer das Gehör der Mächtigen finden werden. Gerade deshalb trägt aber Rechtssicherheit zur Legitimität von Herrschaft bei. Sie kann Vertrauen schaffen, sowohl innenpolitisch wie im Weltgeschehen. Aus UN-Sicht sind diese Dinge klar. 1997 veröffentlichte das UN-Sekretariat ein starkes Dokument mit dem Titel „Rethinking the State for Social Development“. Eine zentrale Aussage darin war: „Die Ziele und die Funktionen des Sozialstaats sind nicht mit betriebswirtschaftlicher Logik gleichzusetzen. Er ist vielmehr nötig, um wichtige Dinge wie allgemeinen Zugang, Fairness, Nachhaltigkeit und Effizienz zu gewährleisten.“
In Schwellen- und Entwicklungsländern wird immer deutlicher, dass Wachstum an sich nicht reicht. Große Landtransaktionen haben in jüngster Zeit beispielsweise den Lebensunterhalt vieler Kleinbauern in Frage gestellt. Eigentlich erfordern solche Geschäfte das konsequente Eingreifen des Staats zum Schutz der Opfer. Stattdessen wurden Regierungen zu Komplizen illegaler Bodenspekulation. Illegal ist sie, weil sie die Rechte der traditionellen Eigentümer missachtet. Staatliche Stellen müssen zudem Umweltverschmutzung verhindern, für Arbeitssicherheit sorgen und Daseinsfürsorge betreiben – also beispielsweise sicheres Trinkwasser, echte Bildungschancen und zuverlässige Krankenversorgung für alle bereitstellen.
Ein verantwortlicher Staat muss sich um das Wohlergehen aller Bürger kümmern und vor allem um das benachteiligter Menschen. Es darf nicht zugelassen werden, dass ausländische Investoren und starke Wirtschaftsinteressen den Staat erobern und für die Profitmaximierung nutzen.
Gute Regierungsführung bedeutet Interessenausgleich. Dafür müssen die verschiedenen Staatsgewalten einander kontrollieren. Zugleich muss die Zivilgesellschaft die Möglichkeit haben, Staatshandeln in Frage zu stellen, und die Behörden müssen den Einfluss der Wirtschaftsinteressen eindämmen. Weil bessere Regierungsführung ein wichtiges Anliegen bleibt, wird Rechtssicherheit im September zentrales Thema der UN-Generalversammlung sein.