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Mexiko

Wer sind wir?

Die spanische Kolonialherrschaft in Mexiko hat 300 Jahre gedauert und das Land zum Kern des riesigen Verwaltungsgebiets „Neuspanien“ gemacht. Ihre Folgen prägen bis heute die Gesellschaft – und das, obwohl Unabhängigkeitsbewegungen bereits vor 200 Jahren entstanden und die Nationen hervorbrachten, die heute Lateinamerika ausmachen.
Die Jungfrau von Guadalupe wird heute an dem Tag gefeiert, an dem in vorspanischer Zeit die Göttin Tonantzin verehrt wurde. Wikipedia Die Jungfrau von Guadalupe wird heute an dem Tag gefeiert, an dem in vorspanischer Zeit die Göttin Tonantzin verehrt wurde.

Die Kolonialzeit hat Gutes wie Schlechtes hinterlassen. Gut ist vor allem die gemeinsame spanische Sprache, die von der Südgrenze der USA mit wenigen Ausnahmen bis zur Südspitze des Kontinents reicht und auch in den USA von vielen Millionen Menschen gesprochen wird. Auch die vielfältige Küche ist zu nennen, Musik, Architektur und Landschaftsgestaltung. Der sogenannte Kolonialstil erfreut heute Touristen in Altstädten, Parks und Hotels.

Der Kolonialismus hatte aber auch zur Folge, dass die Mexikaner seit langer Zeit mit Identitätsfragen beschäftigt sind. Die Kreolen, die Nachkommen der Spanier, haben die alte Heimat ihrer Vorfahren nie kennengelernt. Und die Mestizen (Mischlinge) wurden – bevor sie die Mehrheit der Bevölkerung stellten – von allen im kolonialen Kastensystem definierten Rassen abgelehnt. Diese waren Spanier, Indios, Afrikaner und Asiaten. Der Begriff Mestize bezog sich nur auf Nachkommen von Spaniern und Indios, und so kam es zu einer ganzen Reihe absurder Bezeichnungen, die die Abstammung jedes Einzelnen wiedergeben sollten.

Diese Klassifizierung war extrem eingeschränkt, da sie der ethnischen Vielfalt innerhalb jeder Gruppe nicht Rechnung trug, sondern sich allein auf die geografische Herkunft bezog. Mit der Zeit wurde sie zudem immer komplexer. Der Nutzen dieses Systems für die Unterscheidung von Rassen war also höchst zweifelhaft, diente aber dennoch der Zuweisung von Privilegien, was die Gesellschaft unauslöschlich geprägt hat.


Identitätsdilemma

Sind wir Indios oder Europäer? Opfer oder Täter? In den Jahren vor der Unabhängigkeit, die Mexiko 1821 erreichte, stilisierten Intellektuelle und Schriftsteller die Mestizen zur Lösung des nationalen Identitätsdilemmas. Nach der Revolution zu Beginn des 20. Jahrhundert formulierte der Intellektuelle und Politiker José Vasconcelos eine Antwort auf diese Fragen: Wir sind Teil einer neuen Menschheit, der „Weltrasse“ („raza cósmica“), die alle Eigenschaften der verschiedenen Ethnien in sich vereint.

Diese Vorstellung schien über mehrere Jahrzehnte hinweg die wachsende Mehrheit der Menschen zu befriedigen, die ihre Herkunft auf verschiedene Rassen zurückführte. Sie führte zu einem großen kulturellen Umbruch, der ein europäisches Bildungsmodell beförderte, die Indigenen-Dörfer alphabetisierte (selbstverständlich auf Spanisch) und sich auf eindrucksvolle Weise mit dem Indigenen als schmerzhafte Vergangenheit verband, die es zu überwinden galt. Künstler und Schriftsteller griffen die traumatischen Themen auf und äußerten eine neue Art von Nationalismus. Der Essay „Das Labyrinth des Schweigens“ von Octavio Paz ist ein Beispiel.

Die 1990er Jahre brachten dann einen Welle von kulturellen und ethnischen Selbstbehauptungen, die noch kurz zuvor unmöglich erschienen waren. Bestimmte Rechte der indigenen Völker mussten anerkannt werden – etwa das Recht, ihre Sprache zu bewahren. Anlass der Proteste waren die Vorbereitungen zum 500. Jahrestag der bis dahin so genannten „Entdeckung Amerikas“ von 1492. Sie wirkten wie eine kalte Dusche für Mestizen, die geglaubt hatten, ihre Identitätsprobleme gelöst zu haben, und ebenso für Weiße, die die zivilisatorische Leistung der Europäer feiern wollten.


„Es war keine Entdeckung“

Teile der mexikanischen Bevölkerung stemmten sich entschieden dagegen, das, was mehr und mehr als Genozid bezeichnet wurde, zu feiern. Sie fragten, ob man die physische und kulturelle Vernichtung der ursprünglichen Bewohner Amerikas feiern kann. „Es war keine Entdeckung“ und „es gibt nichts zu feiern“ lauteten die Parolen. Mexiko ist auch 500 Jahre später ein rückständiges, armes Land, dessen natürliche Ressourcen geplündert werden, und der Grund dafür liegt in der durch die Kolonialisierung geschaffenen tiefen sozialen Ungleichheit.

1992 beschlossen die indigenen Völker des gesamten Kontinents, von Kanada bis Patagonien, sich in Mexiko zu treffen. Das Licht, in dem die 500-Jahr-Feier erschien, musste sich ändern. Der Begriff der „Entdeckung“ wurde ersetzt durch „Treffen zweier Welten“. Aus der Feier wurde Gedenken, und Christoph Kolumbus stürzte aus dem Himmel der Nationalhelden.


Vermischung von Religionen

Das Erbe der Kolonialzeit ist auch im spirituellen Leben zu erkennen. Christianisierung war ein Teil der Unterwerfung. Kirchen wurden auf den Grundmauern der Tempel für die prähispanischen Götter errichtet, heilige Orte besetzt und Feiertage umgewidmet. Lange Zeit kümmerten sich religiöse Institutionen um gesellschaftliche Angelegenheiten wie Personenstandsregister und Bildung. Missionare lernten indigene Sprachen, um die Menschen zu bekehren. In gewisser Weise stellten sie das sanfte Antlitz der Eroberung dar.

Die Religionen vermischten sich, und dieser Synkretismus ist praktisch in allen katholischen Feierlichkeiten erkennbar. Beispielsweise spielt der Kult um die Jungfrau von Guadalupe eine große Rolle. Sie wird am selben Ort zum selben Datum verehrt wie einst Tonantzin, die Mutter Erde, und die Feier zu ihren Ehren folgt alten prähispanischen Ritualen – unter dem kritischen Blick der modernen Kirche.

Eine weitere Spätfolge des Kolonialsystems betrifft die Ausübung von wirtschaftlicher und politischer Macht. Rassismus und Klassenzugehörigkeit sind wichtig (siehe Box); Mitglieder der Elite stehen über dem Gesetz.

Aus Sicht vieler Mexikaner ist die Legitimität staatlicher Institutionen schwach. Das liegt unter anderem an Korruption und den häufig unverhältnismäßige Gewalt ausübenden Sicherheitskräften. Es wäre überzogen, den aktuellen Drogenkrieg mit dem Kolonialismus zu erklären. Dass die Beziehungen zwischen Ordnungskräften und lokalen Gemeinschaften historisch belastet sind, spielt aber eine Rolle.

Schließlich bleibt festzuhalten: Obwohl die Kolonialzeit das bestimmende Moment für den Aufbau der heutigen mexikanischen Gesellschaft war, hat sie keine negativen Folgen für die politischen und diplomatischen Beziehungen mit Spanien. In den Jahren nach der Unabhängigkeit entwickelte sich ein freundschaftliches und solidarisches Verhältnis, das sich in kritischen Zeiten bewährt hat.


Virginia Mercado ist Wissenschaftlerin an der Universidad Autónoma del Estado de México (UNAM) und Lehrkraft für Friedens- und Entwicklungsstudien.
virmercado@yahoo.com.mx