Medien
Forum der Armen
Von Elton Hubner
Mit weit geöffneten Armen segnet die hoch aufragende Jesus-Statue die sieben Millionen Einwohner einer Stadt, deren Wärme und schillernde Kulisse Touristen aus aller Welt willkommen heißt. Pro Jahr kommen ungefähr drei Millionen Urlauber aus dem Ausland nach Rio. Es könnten noch deutlich mehr sein, wenn die so genannte „wunderbare Stadt” nicht eine dunkle Seite hätte: eine außergewöhnlich hohe Zahl an Gewaltverbrechen.
Im Jahr 2009 registrierten die Behörden 2155 Morde in der Stadt – das waren dreimal so viele wie in ganz Deutschland im gleichen Jahr. Wie auch in den meisten anderen brasilianischen Städten stehen die Verbrechen im engen Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Kluft zwischen Arm und Reich. In Rio ist diese Ungleichheit allerdings besonders augenscheinlich, weil die meisten Hänge der Stadt mit Favelas besiedelt sind, in denen die städtische Unterschicht wohnt. Vor rund 100 Jahren entstanden die Favelas als illegale Siedlungen, und obwohl die Stadtplanung sie mittlerweile berücksichtigt, werden sie noch immer als ein wenig informell angesehen. In vielen Dingen ähneln sie Slums. (Siehe Veronika Duffner: „Bürger zweiter Klasse“ in E+Z/D+C 2011/3, S. 110 ff.).
Heute wohnt fast ein Fünftel der Bewohner Rios in einer der 500 Favelas. Weil weder die Polizei noch die Gerichte sie schützen, leben viele Favela-Bewohner hilflos in einer Welt, die von Drogendealern kontrolliert wird. Die Mafiabanden machen ihre eigenen Gesetze, stellen ihre eigenen Truppen auf, verhängen Ladenschlusszeiten für lokale Kleinhändler und verfolgen Überläufer oder Rivalen mit gnadenloser Härte.
Da Rio sich auf die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Sommerspiele 2016 vorbereitet, versuchen die Behörden, die Kriminalität in den Griff zu kriegen und die Bewohner einiger Favelas in Unterkünfte des sozialen Wohnungsbaus umzusiedeln. Die Massenmedien zeichnen seit jeher bürgerkriegsähnliche Szenarien, in denen Polizei und Verbrecher die Hauptrollen spielen. Wenn Redaktionen ihre Überparteilichkeit aufgegeben müssen, stellen sie sich in der Regel auf die Seite der staatlichen Organe. Das garantiert ihnen einen konstanten Informationsfluss, ohne dass sich die Journalisten anzustrengen bräuchten. Weil sie selbst kaum investigativ recherchieren, sind den großen Medien zudem die Verbindungen zwischen der kriminellen Unterwelt und den Behörden nicht klar.
Der Standardberichterstattung zufolge ist die Verbrechensbekämpfung in jüngster Zeit erfolgreich und die Umsiedelungen bringen den Favela-Bewohnern diverse Vorteile, da sie bisher in Gegenden leben mussten, die als gefährlich oder für Bebauung ungeeignet eingestuft werden. Aber wie geht es den Leuten aus diesen Favelas wirklich? Wie beurteilten die betroffenen Familien ihre Lage? Was verlangen sie von den Behörden? Diese Fragen versucht die Agência de Notícias das Favelas, kurz ANF, seit zehn Jahren zu beantworten.
Der 40-jährige Journalist André Fernandes gründete ANF 2001. Davor war er als Missionar in Favelas tätig. Die Internetseite www.anf.org.br will den Nachrichtenfluss demokratisieren und Meldungen in den nötigen Kontext stellen. Deshalb veröffentlicht ANF auch Meinungsbeiträge, in denen die Autoren diverse Themen diskutieren. Einmal im Monat wird eine Auswahl der Texte von der ANF-Homepage in einer Auflage von 50 000 Exemplaren gedruckt.
Online-Schulung
ANF hat begonnen, Online-Kurse anzubieten, um „basisnahe Korrespondenten“ auszubilden, wie André Fernandes sagt. Die journalistisch geschulten Favela-Bewohner intensivieren die Berichterstattung aus Rio.
Die Inhalte von ANF werden von Leuten mit unterschiedlichem Hintergrund geliefert, die einen passwortgeschützten Zugang zur Website haben und ihre Texte hochladen. In der Regel haben diese freien Mitarbeiter Zugang zu Informationen, an die normale Reporter kaum herankommen oder die Zeitungen nicht drucken würden. Anfang 2011 hatte die Agentur weniger als 100 Mitarbeiter, aber ihre Anzahl wächst.
ANF will über die Stadtgrenzen hinaus wachsen: „In vier Jahren wollen wir Beiträge von 1000 Mitarbeitern aus aller Welt haben“, sagt Fernandes. Er will sich zunächst auf Korrespondenten in anderen lateinamerikanischen Ländern stützen, beginnend mit Paraguay, Venezuela, Kolumbien und Mexiko.
Erste Schritte zur Internationalisierung sind getan. 1994 beantragte der Soziologe Caio Ferraz politisches Asyl in den USA, weil er nach einem Gemetzel, bei dem in der Favela Vigário Geral 21 unbewaffnete Personen starben, Todesdrohungen aus den Reihen der Polizei erhielt. Heute nutzt Ferraz ANF, um das Vorgehen und die Effizienz der brasilianischen Regierung zu hinterfragen.
In den kommenden drei Jahren will sich ANF auf drei Themen konzentrieren.
– Erstens beobachtet ANF die aktuelle Umsiedlungspolitik, im Zuge derer viele Menschen aus den Favelas in sozialen Wohnungsbau umziehen müssen. „Um die 120 Umsiedlungen sind vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 zu erwarten“, sagt Fernandes. „In der Presse stand, 30 000 Menschen seien betroffen, aber die wirkliche Anzahl ist viel höher. Einige dieser Menschen leben in gefährdeten Gebieten, aber viele Umsiedlungen sind eine Art kosmetischer Eingriff für die Stadt.“
– Zweitens begleitet ANF die Strategie der neuen „Befriedenden Polizeieinheiten“ (UPP) kritisch. Diese Einheiten sollen „Konfliktbezirke“ zurückgewinnen, die in der Hand von Drogendealern sind. Laut José Mariano Beltrame, dem Minister für öffentliche Sicherheit des Bundesstaates Rio de Janeiro, sind 40 UPPs geplant, um in 140 Stadtvierteln Frieden zu schaffen. Während die lokale und internationale Presse in der Regel die Informationen vom Minister und seinen Sprechern nur wiedergeben, bietet Fernandes den Bewohnern der besetzten Favelas die Gelegenheit, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. „Vor einigen Monaten haben die TV-Sender gute Berichte über die Besetzung der Favela Complexo do Alemao geliefert“, urteilt Fernandes. „Dennoch haben die Medien nicht gezeigt, dass Favela-Bewohner von Polizeibeamten geschlagen wurden. Einige Augenzeugen haben das gefilmt und auf Youtube gestellt. Jetzt können sie die Videos auch auf der ANF-Homepage posten.“
– Drittens schenkt ANF dem Bildungssystem Aufmerksamkeit. Der Geografieprofessor Andrelino Campos moniert, dass die übrigen Medien das nicht ausreichend tun. Irrtümlicherweise werde deshalb Gewalt in den Favelas allein auf den Drogenhandel zurückgeführt. „Die Schulen werden letztlich neben dem Unterrichten für viele andere Dinge genutzt: Essen, Schlafen, Fußballspielen“, sagt Campos. Lernen sei dort nicht die Hauptsache. „Dass es so viel Gewalt gibt, ist deshalb kein Wunder.“
ANF-Chefredakteur Fernandes sagt, die Distanz der Medien zu den Favelas habe wirtschaftliche Gründe. „Die Presse von Rio sieht staatliches Handeln sehr positiv, was vor allem daran liegt, dass Landes- und Stadtregierung Anzeigen in den Zeitungen schalten.“ Darüber hinaus spielt Angst eine Rolle – vor allem, seit der investigative Journalist Tim Lopes 2002 in einer Favela von Rio gekidnappt, gefoltert und getötet wurde.
ANF und das Observatório das Favelas („Favela-Beobachter“), eine andere Organisation, die Nachrichten aus den Favelas liefert, haben Verbindungen zwischen Reportern und Quellen hergestellt. Das Vernetzung beider Gruppen vereinfacht nicht nur den Zugang der Reporter zu Informationen, sondern es hilft auch, Quellen zu schützen. Informanten haben die Möglichkeit, anonym zu bleiben. „Wenn wir Kontakte herstellen zwischen Informanten und Journalisten, raten wir den Informanten, sich die möglichen Konsequenzen ihrer Auskünfte gut zu überlegen“, erklärt der Journalist Vitor Monteiro de Castro vom Favela-Beobachter.
Die wichtigste Zeitung in Rio, O Globo, war lange Zeit mit dem Stigma der Einseitigkeit belegt. Erst vor kurzer Zeit hat sie gezeigt, dass sie ihre Berichterstattung über die Favelas ändern will. O Globo hat dafür auch einen Blog mit dem Namen „Favela Livre“ (Freie Favela) gestartet. Die Redaktion steht nun in Kontakt zu den Menschen in den Favelas und stärkt somit ihr eigenes Informanten-Netzwerk. Fernandes nennt das einen Versuch, das zu kopieren, was ANF seit zehn Jahren tut: „Der Unterschied ist, dass wir von innen heraus aus den Favelas arbeiten.“