Resilienz
Der Aufstieg eines Konzepts
„Die Kosten humanitärer Krisen eskalieren. Es gibt einen dringenden Bedarf, Menschen und Gemeinden zu helfen, zunehmenden Schocks und Stressoren zu widerstehen und sich davon wieder zu erholen. In anderen Worten, ihnen zu helfen, ihre Resilienz aufzubauen.“ Mit diesen Worten bringt der aktuelle „EU-Aktionsplan für Resilienz in krisenanfälligen Ländern 2013 – 2020“ die Situation auf den Punkt.
Spätestens seit 2010 lässt sich beobachten, dass nicht mehr Vulnerabilität, also Verwundbarkeit, sondern Resilienz die zentrale Kategorie in der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit darstellt. Statt der Schwächen und Bedürftigkeiten von Menschen und Gemeinschaften stehen nunmehr ihre Stärken und Fähigkeiten, mit Katastrophen und Krisen fertigzuwerden, im Zentrum. Diese Verschiebung hat insofern einen emanzipatorischen Gehalt, als sie den Blick auf die Widerständigkeit und die Selbsthilfekräfte von Menschen und Gemeinden lenkt, auf Überlebensstrategien, Handlungsfähigkeit, Selbstermächtigung und Unterstützungsnetzwerke. Das fordern kritische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) schon lange.
Das Paradoxe dabei: Indem mit der Verbreitung des Resilienzkonzepts die lokalen Kapazitäten in Krisenregionen als Ressource des Krisen- und Risikomanagements „entdeckt“ wurden, ist der Anspruch, die Krise zu vermeiden, aus dem Fokus gerückt. In der technokratischen Logik der Resilienz werden Fluten, Dürren, Wirbelstürme, Kriege, Vertreibung, Flucht, Armut lediglich als „Schocks“ und „Stressoren“ wahrgenommen, aber nicht mehr als zu überwindende Ursachen der Krisen. Der verzweifelte Kampf von Menschen, in unmenschlichen Bedingungen zu überleben, wird zum Resilienzfaktor umdefiniert.
Krise als Normalzustand
Welche Folgen diese Entwicklung zum Beispiel bei Gesundheitskrisen hat, beschreiben die internationalen Experten Stephanie Topp, Walter Flores, Veena Sriram und Kerry Scott so: „Resilienzstärkung scheint kaum eine Untersuchung oder Infragestellung der strukturellen Bedingungen zu beinhalten, die zur Dysfunktionalität eines Gesundheitssystems beitragen, wie historisch koloniale Erbschaften, aktuelle Handels- und Hilfsstrukturen, Steuer- und Gesundheitsversicherungssysteme.“ Der Aufstieg des Resilienzdiskurses habe es Gesundheitsakteuren ermöglicht, Debatten über langfristige Visionen durch einen aktionsorientierten Diskurs zu ersetzen, der nur in kurzen Zeitspannen denke. In diesem Sinne wird die Krise als Normalzustand akzeptiert und hat Resilienz das Konzept der Nachhaltigkeit verdrängt: Letzteres zielte darauf ab, die Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Im Resilienzdiskurs geht es darum, mit einer unausgeglichenen Welt zurechtzukommen.
Die Janusköpfigkeit dieses neuen Katastrophenmanagements zeigt sich in einer neuen „Rolle“ der hilfsbedürftigen Individuen, Gemeinschaften und Krisenregionen: Die Krisenbewältigung liegt in hohem Maße in ihrer Verantwortung und in ihrer Resilienz. Eine Fallstudie der italienischen Wissenschaftlerin Mara Bernadusi über ein resilienzförderndes Projekt nach dem Tsunami in Sri Lanka zeigt, wie die Betroffenen damit in eine Falle geraten: Zeigen sie sich nur vulnerabel, unterlaufen sie die Anforderungen der Förderung, ihre Resilienz zu stärken. Zeigen sie sich jedoch zu resilient, übererfüllen sie die Anforderungen und laufen damit Gefahr, als nicht mehr hilfsbedürftig eingestuft zu werden: „Um weitere Hilfe zu erhalten, mussten die Überlebenden sorgfältig überlegen, wie viel Resilienz sie zeigen. Sie mussten ‚gerade resilient genug‘ erscheinen, um förderungswürdig zu sein, aber nicht so resilient, um den Anschein der Verwundbarkeit nicht zu gefährden, der nötig ist, um Hilfe zu erhalten.“ Paradoxerweise sei die wichtigste Lektion, die die Dorfbewohner während des Wiederaufbaus lernten, die, wie sie die Position eines „guten Produkts des Tsunamis“ aufrechterhalten.
Kontroll- und Selektionsinstrument
Um herauszufinden, wie man eine Gemeinschaft widerstandfähiger – also resilienter – macht, werden spezifische Messinstrumente eingesetzt. So hat die Europäische Union einen Resilienzmarker entwickelt, anhand dessen der Erfolg von Hilfe gemessen, aber auch der Bedarf festgelegt wird. Auch die United States Agency for International Development (USAID) hat ausgeklügelte Instrumente ausgearbeitet, durch die letztlich Hilfsbedürftigkeit immer kleinteiliger nach unten definiert wird. Die Depth-of-Poverty-Messung bestimmt, wie viel Armut resilient auszuhalten ist. Das Moderate-to-Severe-Hunger-Instrument definiert, ab wann man wirklich verhungert. Die Global-Acute-Malnutrition-Skala zeigt an, ab wann die Unterernährung unter das übliche Maß fällt. Immer resilienter zu werden gerät so zum Zwang, und Resilienzförderung wird zum Kontroll- und Selektionsinstrument von Hilfe. Das humanitäre Gebot, allen, die in Not sind, zu helfen, wird damit in Frage gestellt.
Mit dem Resilienzkonzept wird auch ein Paradigmenwechsel in der humanitären Finanzierung eingeläutet. Die zu Recht kritische Debatte über die Trennung von humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit sowie der Mangel an Koordination zwischen humanitären Akteuren dienen als Legitimation, um das ganze System in Frage zu stellen. Exemplarisch dafür steht der Aktionsplan für Resilienz in krisenanfälligen Ländern, den die Europäische Union entwickelt hat. Die Neudefinition des Umfangs humanitärer Bedürfnisse und somit des Anspruchs auf Hilfe erlaubt es, verschiedene EU-Programme zu Risikomanagement, Katastrophenvorsorge, Klimawandelanpassung, sozialem Schutz, Ernährungs- und Nahrungsmittelsicherheit unter dem Querschnittsprinzip Resilienz zusammenzuführen – und damit letztlich Mittel zu kürzen.
Auf einer humanitären Tagung über Resilienz, auf der auch Hilfswerke der UN, die Europäische Union und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) vertreten waren, fielen Sätze wie: „Menschen und Gemeinden müssen lernen, aus eigener Kraft Krisen zu überwinden, und sich schneller berappeln“, „Sie sollen ‚dürreresilienter‘ werden“ oder „Wie kann man die Bedürfnisse verringern, um Kosten zu dämpfen?“. Diese Aussagen weisen darauf hin, was das „Querschnittsprinzip Resilienz“ in der Praxis bedeutet : die Verantwortung für die Folgen von Krisen an die davon Betroffenen abzuwälzen.
Neues Geschäftsfeld
Gleichzeitig öffnet sich die humanitäre Hilfe zunehmend der Privatwirtschaft. Überall wird um den privaten Sektor als vierte Säule neben Staat, Zivilgesellschaft und Wissenschaft geworben. Und diese hat die Katastrophenvorsorge als neues Geschäftsfeld entdeckt. Im Jahr 2015 kamen 70 bis 80 Prozent der Neuinvestitionen im Bereich der „Disaster Risk Reduction“ aus der Privatwirtschaft. Internationale Foren wie das „Global Disaster Relief Summit“ bringen UN-Organisationen, Weltbank, Sicherheitsberater, Finanzdienstleiter, Stiftungen, USAID und große Hilfswerke mit privaten Investoren zusammen, die von Fahrzeugen, Logistikprodukten, Kommunikation, Sicherheitstechnologie und Pharmaprodukten alles verkaufen, um aus einer Katastrophe ein neues Geschäftsmodell mit „Resilienzdividende“ zu machen. Eine NGO-Studie belegt detailliert, wie der Wiederaufbau nach dem Taifun Yolanda auf den Philippinen 2013 zum Experimentierfeld für private Investitions- und Profitmöglichkeiten wurde. Statt „Building back better“, wie das Wiederaufbauprogramm genannt wurde, verschlechterte sich für viele arme Menschen die Situation dramatisch, während sich für Privatunternehmen im Bergbau, Agrar- und Tourismussektor ganz neue Business-Möglichkeiten ergaben.
Die Konjunktur des Resilienzkonzepts repräsentiert eine neoliberale Wende in der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Es darf aber nicht darum gehen, lediglich die „Resilienz“ von Menschen und Gemeinden zu stärken, die ohnehin schon all ihre Krisenstrategien, Widerstandskräfte, Netzwerke und Kreativität aufbringen, um in katastrophalen Zeiten zu überleben. Lokale Akteure brauchen Ressourcen und Unterstützung, um die Verantwortlichen von Krisen an deren Bewältigung zu beteiligen. Mit seiner Tendenz, emanzipatorische Konzepte zu vereinnahmen, kann das Resilienzkonzept nicht innerhalb des eigenen Diskurses in Frage gestellt werden. Daher braucht es eine Bewegung von außen, die sich der Entwicklung verweigert, die Praxis kritisch überwacht und Ansätze verteidigt, die noch Alternativen zur Logik der permanenten Krise entwickeln will.
Dieser Text ist eine stark gekürzte Fassung des Beitrages „Überleben in der Dauerkrise“, der im Mai 2017 in dem von medico international herausgegebenen Band „Fit für die Katastrophe? Kritische Anmerkungen zum Resilienzdiskurs im aktuellen Krisenmanagement“ erscheinen wird (Psychosozial-Verlag).
Usche Merk ist Projektkoordinatorin und Fachreferentin für psychosoziale Arbeit bei der Nichtregierungsorganisation medico international.
merk@medico.de