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Leben zwischen Stadt und Land

Die globale Nahrungsmittelkrise rückt informelle Austauschbeziehungen zwischen Gruppen aus urbanen und ländlichen Räumen ins Zentrum der Entwicklungsforschung. Die Kooperation von Städtern und ihren Verwandten vom Land wird dabei oft als „multilokaler Haushalt“ bezeichnet. Untersuchungen in Namibia zeigen Stärken und Schwächen des Konzeptes.


[ Von Clemens Greiner und Michael Schnegg ]

In Namibia sichern sich viele Menschen durch zirkuläre Migrationsprozesse und intensive Austauschbeziehungen zwischen Stadt und Land vor Lebensrisiken ab. Das gilt auch für die dünn besiedelte südliche Kunene-Region, in der die Autoren jahrelang ethnographisch forschten. Die meisten Bewohner dieser Region betreiben extensive Viehwirtschaft, kombiniert mit anderen wirtschaftlichen Strategien. Die über 50-Jährigen leben überwiegend auf ländlichen Farmsiedlungen, während ein Großteil ihrer Kinder – zumindest vorübergehend – 200 Kilometer oder weiter entfernt in den Städten lebt.

Alt und Jung betreiben dabei Arbeitsteilung: Die Älteren kümmern sich auf den Farmsiedlungen im ariden Nordwesten um die Viehwirtschaft – die Tiere sind individueller Besitz. Die Alten leben oft mit ihren Enkeln und Urenkeln zusammen, meist werden dort auch die Kinder betreut und die Kranken versorgt und die Städter somit entlastet. In der Stadt lebt hingegen nur – oft auf engstem Raum –, wer dort arbeitet oder zur Schule geht. Ein Teil des Geldes, das in den Städten verdient wird, wird aufs Land transferiert oder es werden Nahrungsmittel – Nudeln oder Reis etwa – gekauft und dorthin gebracht. Der auf dem Land lebende Teil der Familie überlässt den Stadtbewohnern dafür regelmäßig Fleisch- und Milchprodukte, die in den Städten deutlich teurer sind als auf dem Land.

Regionale Raum- und Preisvorteile

So verschaffen sich größere Familienverbände Zugang zu städtischen wie auch zu ländlichen Ressourcen und nutzen so die Raum- und Preisvorteile der jeweiligen Region. Oft erstrecken sich derartige Konstellationen über mehr als zwei Standorte – etwa auf die Hauptstadt Windhoek und die Hafenstadt Walvis Bay, die sich satellitenartig um das symbolische, soziale und ökonomische Zentrum auf dem Land anordnen.

Diese räumliche Diversifizierung macht nicht nur verschiedene Ressourcen zugänglich, sie streut auch Risiken. Zu den größten Risiken des städtischen Lebens zählen die Unwägbarkeiten des urbanen Arbeitsmarktes. Die Viehwirtschaft hingegen wird durch regelmäßige Dürreperioden gefährdet (Greiner 2008).

Überlebensstrategien urbaner und ländlicher Haushalte in Entwicklungsländern sind häufig nur mit Verweis auf multilokale Austauschprozesse und wechselseitige Sicherungsstrategien zu erklären, die sich in spezifischen Konstellationen und Netzwerken abbilden. Zur Beschreibung dieses Phänomens sind unterschiedliche Begriffe vorgeschlagen worden wie „split-households“, „multiple home households“, „dual-households“ und „multilokale Haushalte“. In der deutschsprachigen Entwicklungsforschung scheint sich – wie auch in der Familiensoziologie – die Bezeichnung „multilokale Haushalte“ durchzusetzen.

Nachvollziehbare Überlebensstrategien

Nach Schmidt-Kallert und Kreibich (2004) führen die Mitglieder eines „multilokalen Haushalts“ ein Leben zwischen Stadt und Land. Diese Erkenntnis halten sie für zentral, um Überlebensstrategien in den Megastädten zu verstehen. Ohne dieses Konzept seien die Realitäten der so lebenden Menschen so wenig durchschaubar, wie es die Wirtschaft ohne Berücksichtigung des informellen Sektors wäre.

Tatsächlich bietet sich hier der Vergleich mit der Diskussion über den informellen Sektor und dessen Bedeutung für die Entwicklungsforschung der 1980er und 1990er Jahre an. Allerdings sollte man versuchen, aus den Problemen zu lernen, die dieser Begriff mit sich gebracht hat. Alle nicht staatlich erfassten wirtschaftlichen Aktivitäten galten bald pauschal als informeller Sektor. Dabei verschleierte das Konzept oft mehr, als dass es soziale Tatsachen beschrieb, kategorisierte und vergleichbar machte. Daher ist zu hinterfragen, was unter einem multilokalen Haushalt zu verstehen ist und bei welchen Formen der Stadt-Land-Kooperation andere Begriffe verwendet werden sollten.

Haushalte sind in den meisten Gesellschaften Dreh- und Angelpunkt wirtschaftlicher und sozialer Aktivitäten und daher eine weit verbreitete Analyseeinheit. Sie sind geeignet, wirtschaftliche Strategien und die Verteilung von Kapital innerhalb einer Gesellschaft oder zwischen Gesellschaften zu vergleichen. Haushalte werden als eine fest umschriebene Gruppe an Personen definiert, die:
– vorwiegend verwandtschaftlich verbunden sind,
– gemeinsam produzieren,
– gemeinsam konsumieren,
– sich als Haushalt wahrnehmen und
– gemeinsam unter einem Dach leben.
Darüber hinaus ziehen sie oft gemeinsam Kinder auf.

Jede Person kann nur einem Haushalt angehören. Ein multilokaler Haushalt ist somit eine Personengruppe, die die ersten vier Kriterien erfüllt. Nur Punkt 5, der gemeinsame Wohnort, gilt nicht mehr. Um weiterhin von einem Haushalt sprechen zu können, muss es sich aber um eine fest umrissene Gruppe handeln, die an mehreren Orte verteilt lebt und gemeinsam über Produktion und Konsum von Gütern entscheidet oder diese zumindest koordiniert. Zudem sollten die Mitglieder der Gruppe verwandtschaftlich verbunden sein. Eine Person kann auch nur einem multilokalen Haushalt angehören.

Meist bestehen verwandtschaftliche Beziehungen, die Stadt-Land-Kooperation findet fast immer innerhalb von Familienverbänden statt. Kritisch wird es, wenn Entscheidungen über Produktion und Konsum koordiniert werden sollen.

Gerade bei Migration über größere Distanzen hinweg, wo die Kommunikation schwierig und teuer ist, sind die Bindungen zwischen Stadt und Land oft nicht fest genug, um von einer gemeinsam handelnden sozialen Einheit zu sprechen. Dann ist es fraglich, ob überhaupt weiter von einem Haushalt zu sprechen ist. Es ist ja auch nicht von einem Haushalt die Rede, wenn zwei separat lebende und wirtschaftende Familien eines Dorfes regelmäßig Güter tauschen oder sich mit Arbeiten unterstützen. Dafür gibt es ein anderes Konzept: das des sozialen Netzwerkes (Schnegg 2008).

Wird zwischen sonst relativ autonomen wirtschaftlichen Einheiten getauscht, handelt es sich um soziale Netzwerke und Absicherung durch soziale Beziehungen. Diese können ganz unterschiedlich sein: langfristig ausgerichtet oder instrumentell und unverbindlicher. Bei Stadt-Land-Beziehungen basieren sie oft auf verwandtschaftlichen Bindungen und schaffen flexible Verbünde, deren Grenzen offen sind und die schnell anpassbar sind. Diese Netzwerke unterscheiden sich formal und substanziell erheblich von Haushalten und anderen kategorialen Einheiten, die feste Zuordnungen und Mitgliedschaften voraussetzen. In vielen Situationen sind solche offenen Formen der Kooperation zwischen Haushalten eine flexiblere Strategie der sozialen Absicherung – auch zwischen Stadt und Land.

Weltweit gibt es Haushalte, die sich über mehrere Orte verteilen. Nicht jeder Tausch zwischen Verwandten bildet aber einen multilokalen Haushalt. Wir plädieren daher dafür, nur dann von einem multilokalen Haushalt zu sprechen, wenn die Gruppe sich als solche wahrnimmt und gemeinschaftlich wirtschaftet und handelt. Andere Fälle sollte man als Netzwerke begreifen und entsprechend mit dem dafür verfügbaren methodischen Instrumentarium, der Netzwerkanalyse, untersuchen. Das hat den Vorteil, dass es damit zwei unterschiedliche Konzepte gibt, um spezifische Lebenssituationen zu beschreiben, und man nicht Gefahr läuft, unterschiedlichen Phänomenen den gleichen Namen zu geben.