Regionale Integration

Irischer Frieden in Gefahr

Die Dekolonialisierung hat oft zu willkürlichen Grenzen geführt und so andauernde Spannungen und Konflikte geschaffen. Der ehemaligen Kolonialmacht Britannien macht die Grenze zu schaffen, die sie selbst quer durch Irland gezogen hat. Dank regionaler Integration im EU-Kontext wurde sie allerdings zunehmend obsolet. Theoretisch könnte das auch anderswo funktionieren. Ob der fragile irische Frieden den Brexit überlebt, ist offen.
Illoyaler künftiger Regierungschef mit der loyalistischen DUP-Politikerin Arlene Foster im Sommer 2019. Bevor er Premierminister wurde, versprach Boris Johnson, es werde keine Grenze zwischen Nordirland und Großbritannien geben, aber sein Brexit-Abkommen mit der EU würde eine schaffen. Niall Carson/picture-alliance/empics Illoyaler künftiger Regierungschef mit der loyalistischen DUP-Politikerin Arlene Foster im Sommer 2019. Bevor er Premierminister wurde, versprach Boris Johnson, es werde keine Grenze zwischen Nordirland und Großbritannien geben, aber sein Brexit-Abkommen mit der EU würde eine schaffen.

Im Ersten Weltkrieg flammte die irische Unabhängigkeitsbewegung neu auf und zwang den britischen Staat schließlich zum Rückzug – abgesehen von deren nordöstlichem Teil. Dieses Fünftel der Insel hieß fortan Nordirland und blieb Teil des United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland. („Großbritannien“ heißt die Hauptinsel.) Vor nicht einmal 100 Jahren entstand mithin eine damals streng bewachte Grenze, die das Königreich von der Republik Irland trennte.  

Damals identifizierten sich die meisten Nordiren als Briten. Sie waren überwiegend Protestanten und wurden „Loyalists“ oder „Unionists“ genannt. Die unterdrückte katholische Minderheit bezeichnete sich als irisch. Sie wurden „Republicans“ oder „Nationalists“ genannt. Heute sind beide Volksgruppen ungefähr gleich groß.  

Es gab immer wieder Gewalt. Beide Seiten hatten bewaffnete Gruppen. Die längste Konfliktphase hielt von 1968 bis 1998 an und forderte mehr als 3500 Leben. Die meisten Opfer gehörten keiner Miliz an. Das, was in Afrika, Asien oder Lateinamerika als „fragile Staatlichkeit“ gilt, plagte ein G7-Mitglied. Staatliche Sicherheitskräfte waren nicht neutral. Polizei und Armee standen eng mit den Loyalists in Verbindung.   

Der Konflikte endete 1998 mit dem Karfreitagsabkommen. Geschlossen haben es Vertreter beider Volksgruppen, wobei die Regierungen des Vereinigten Königreichs und der Republik Irland das Ergebnis bestätigten. EU und USA unterstützen das Abkommen. Die beiden Volksgruppen einigten sich darauf, in Nordirland die Macht zu teilen. Dublin und London agierten freundschaftlich. Das Abkommen bekräftigte das Recht der Nordiren, selbst zu entscheiden, welchen Pass sie haben wollten oder sich auch für die doppelte Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Beide Staaten gehörten der EU und ihrem Binnenmarkt an, die Menschen konnten sich also frei hin und her bewegen, und es gab keinen Anlass für Zollkontrollen mehr.

Seit 20 Jahren ist die Insel ein Musterbeispiel für das EU-Ziel des freien Verkehrs von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Heute pendeln Berufstätige zwischen den beiden Staaten. Unternehmen aus dem Norden expandieren nach Süden und umgekehrt. Reisenden fällt der Übertritt von einem Staat in den andern kaum auf. Die britischen Verkehrszeichen verwenden Englisch und Meilen. In der Republik zeigen sie Kilometer an – sowie Ortsnamen auf Gälisch und Englisch. Grenzkontrollen gibt es nicht mehr.

Gewalt gibt es nur noch in einem Maß, das in den meisten Ländern als tolerabel gelten würde. Vor allem kriminelle Loyalists begingen seit 1998 noch politisch motivierte Morde, aber eine geringere Zahl von Verbrechen haben auch republikanische Gegner des Friedensabkommens begangen.  

Auf der Insel ahnte kaum jemand, dass die Engländer den Vorteil der Mitgliedschaft im weltgrößten Handelsblock aus den Augen verlieren würden. Beim Brexit-Volksentscheid stimmten 56 Prozent der nordirischen Wähler für „Remain“. Im gesamten Königreich gewann aber „Leave“ mit 52 Prozent (siehe Box). Die Nordiren ärgert, dass eine knappe Wählermehrheit die Souveränität hat, auch ihre Heimat aus der EU zu führen – und zwar ohne jede Rücksicht darauf, welche Folgen das für Irland hat.  

Der Frieden wurde umso stabiler, je unwichtiger die vor 100 Jahren willkürlich gezogene Grenze wurde. Mit dem geplanten Austritt des Königreichs aus der EU wird sie aber wieder zum Problem, mit dem alte Spannungen und Identitätsfragen verknüpft sind.  

Dublin machte das von Anfang an deutlich, und folglich fanden auch die anderen 26 EU-Regierungen jegliche neue harte Grenze unakzeptabel. Dabei spielten Wirtschaftsinteressen eine Rolle, aber das Hauptziel war der Schutz des fragilen Friedens.

Die meisten Nordiren – ob katholisch oder protestantisch – befürworten das Karfreitagsabkommen. Nur Radikale beider Seiten lehnen es ab. Die extremistischen Loyalists sind gefährlicher, werden aber weniger beachtet.  

Sinn Fein, die wichtigste nationalistische Partei mit Kontakt zur militanten IRA (Irish Republican Army) akzeptierte das Friedensabkommen. Sie sah, dass die wirtschaftliche Integration im EU-Verbund beide Teile Irlands zusammenwachsen lassen würde – und zwar so, dass die Trennung komplett hinfällig werden würde. Der Frieden war weder die Folge von Feigheit noch von Erschöpfung. Die IRA hatte lange gekämpft und dabei auch schwere Angriffe auf der britischen Hauptinsel ausgeübt, löste sich dann aber auf und legte die Waffen nieder. Eine kleine Minderheit militanter Republikaner sieht das Karfreitagsabkommen noch als Legitimierung britischer Herrschaft. Sollten Zollkontrollen, Polizeiposten und Armeepatrouillen wieder eingeführt werden, könnten militante Kräfte diese als „legitime“ Angriffsziele sehen.

Britische Medien bezeichnen die „irische Grenze“ als das Problem. Das zeigt, wie wenig sie verstanden haben, denn es geht um die britische Grenze. Der Satiriker Dara Ó Briáin formuliert treffend: „Die irische Grenze ist der Strand.“  


Keine harte Grenze – oder doch?

Es dauerte entsetzlich lange, bis London begriff, dass keine harte Grenze entstehen durfte. Erst vor wenigen Wochen akzeptierte Premierminister Boris Johnson diese Tatsache. Er hatte das Abkommen, das seine Vorgängerin Theresa May mit der EU schloss, heftig kritisiert. Es hätte das ganze Königreich bis zum Abschluss eines neuen Handelsvertrags mit der EU in deren Zollunion behalten. Johnson wetterte dagegen und sprach von unakzeptablem Souveränitätsverlust. Aber im Oktober schloss er selbst ein Abkommen mit der EU, das eine neue Zollgrenze zwischen Großbritannien und der gesamten irischen Insel vorsieht.   

Was geschehen wird, ist offen und hängt von den britischen Parlamentswahlen im Dezember ab. Wenn Johnson sein Abkommen durchsetzen kann, bleibt Nordirland de facto im EU-Binnenmarkt, so dass neuartige Zollkontrollen in der Irischen See nötig werden. Radikale Loyalists hassen diese Aussicht und fühlen sich zu Recht von Johnson betrogen.  

Wie die meisten Republikaner wollen auch die meisten Loyalists Frieden. Auf beiden Seiten gibt es jedoch kleine Gruppen bewaffneter Extremisten, und die größten illegalen Milizen sind loyalistisch: die Ulster Volunteer Force (UVF) und die Ulster Defence Association (UDA). Sie drohen bereits mit einer Kampagne gegen Johnsons Brexit. Ob sie genug Unterstützung haben, um nicht nur Demonstrationen sondern auch Gewalttaten durchzuführen, bleibt abzuwarten.  

Die größte loyalistische Partei ist die DUP. Sie gehört auch zu den radikalsten und hat das Karfreitagsabkommen nie ganz akzeptiert – aus Sorge, Regionalintegration werde zur Wiedervereinigung der Insel führen. Sie unterstützte deshalb bei der Volksabstimmung „Leave“ und fühlt sich jetzt aber von Johnsons Konservative im Stich gelassen, denen ihre abgelegene Heimat offensichtlich egal ist. Es ist bedrohlich, dass die DUP-Vorsitzende sich mit illegalen Milizionären getroffen hat. Fast überall würde es als Skandal gelten, wenn sich ein Politiker mit paramilitärischen Gangstern beriete. Aber wie meist entgingen der britischen Presse irische Vorgänge. Die größte Bedrohung für Irlands Frieden wäre nun ein erneutes Bündnisses der legal agierenden Loyalisten mit gewalttätigen Gangstern.  


Ciarán Ó Maoláin ist ein irischer Journalist.
ciaran@omaolain.com
twitter: @OMaolainCiaran