Vernachlässigte Tropenkrankheiten
Verzahnung statt Silodenken
Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehören 20 Krankheiten zu den vernachlässigten Tropenkrankheiten (neglected tropical diseases – NTD) (siehe E+Z/D+C e-Paper 2016/11, S. 14). Die häufigsten sind Flussblindheit, Trachom, Elefantiasis, Wurmerkrankungen und Bilharziose. Weltweit sind mehr als 1,5 Milliarden Menschen unmittelbar von NTDs betroffen. Bis zu eine halbe Million Menschen sterben jährlich an ihren Folgen.
Der Begriff „vernachlässigte Tropenkrankheiten“ unterstreicht, dass vor allem Menschen in Entwicklungsländern erkranken, insbesondere Frauen, Kinder und Menschen mit Behinderungen – es handelt sich also um Krankheiten vernachlässigter Menschen. Gleichzeitig sind die Krankheiten vernachlässigt, denn lange Zeit stand nur wenig Geld für Forschung und Behandlung zur Verfügung.
Inzwischen setzt eine breit aufgestellte NTD-Community aus NGOs, Pharmaindustrie und staatlichen Stellen weltweit zahlreiche Programme um. An vielen – auch deutschen – Forschungseinrichtungen arbeiten Wissenschaftler zu dem Thema. Was nach wie vor fehlt, ist eine bessere Vernetzung mit Programmen aus anderen Bereichen.
Insbesondere das von Deutschland während der G20-Präsidentschaft 2017 forcierte Engagement zur Gesundheitssystemstärkung sollte Hand in Hand mit dem Kampf gegen NTDs gehen. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Deutschen Netzwerks gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten, die Ende November auf einer Fachtagung der Christoffel-Blindenmission (CBM) in Berlin vorgestellt wurde. Die Experten dort waren sich einig, dass es nicht reicht, neue Medikamente zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen. Es muss auch die Infrastruktur für deren Verteilung vor Ort geschaffen werden. Jürgen May vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg sagt: „In manchen entlegenen Regionen bekommen Sie leichter eine kalte Cola als Medikamente.“
Um NTDs dauerhaft einzudämmen, ist der Aufbau einer umfassenden Gesundheitsversorgung notwendig. Dazu gehören neben wirksamen und erschwinglichen Medikamenten vor allem Gesundheitsstationen mit geschultem Fachpersonal, kostenlose Behandlungen und nicht zuletzt die Aufklärung der Bevölkerung über Krankheitsursachen und Vorbeugung. Wichtig ist, dass die Gesundheitsdienstleistungen wirklich für alle zugänglich sind. Toyin Aderemi-Ige, Leiterin des CBM-Landesbüros in Nigeria – dem Land mit den höchsten NTD-Infektionsraten Afrikas – und selbst Rollstuhlnutzerin, weiß aus eigener Erfahrung, dass Menschen mit Behinderungen noch viel zu oft ausgeschlossen sind. „Das Problem muss von verschiedenen Seiten angegangen werden“, fordert sie.
Zum Beispiel verringern eine flächendeckende Versorgung mit sauberem Wasser und die Verbesserung von Hygienestandards das Ansteckungs- und Erkrankungsrisiko. Umgekehrt leisten Maßnahmen zur NTD-Bekämpfung einen Beitrag zur Gesundheitssystemstärkung in Entwicklungsländern, denn sie bringen dringend benötigte Basisversorgung selbst in die entlegensten Regionen. Und der Bau von Brunnen verbessert nicht nur die Hygiene, sondern auch die Ernährungssituation der Menschen vor Ort und hilft so umfassend bei der Krankheitsvorbeugung.
Eine Verzahnung der Maßnahmen aus den verschiedenen Bereichen ist nicht nur für die Stärkung von Gesundheitssystemen und den Ausbau von Hygiene-Programmen sinnvoll. Die Autoren der Studie nennen auch Armutsbekämpfung, Ernährungssicherung, Klimaschutz und Geschlechtergerechtigkeit als wichtige Elemente einer integrierten NTD-Arbeit. Alle, die sich gegen Ungleichheit engagieren, müssten konsequenterweise auch vernachlässigte Tropenkrankheiten bekämpfen, so der Appell. Nur so bleiben NTDs nicht länger die Krankheiten der vernachlässigten Menschen.
Link
Kickbusch, I., und Franz, C., 2017: Die integrierte Umsetzung der Bekämpfung der vernachlässigten Tropenkrankheiten – Potential Deutschlands.
http://www.dntds.de/de/aktivitaeten-details/deutschlands-potential-bei-der-bekaempfung-von-vernachlaessigten-tropenkrankheiten.html