Soziale Inklusion

Solidarität und Diversität

In Nigeria muss mit Gewerkschaftsmacht gerechnet werden. Sie organisieren Mitglieder über ethnische und religiöse Gräben hinweg und schützen die Interessen der Arbeitnehmer.


[ Von Bimbola Oyesola ]

Nigerias Gewerkschaftsgeschichte ist interessant. Sie waren am anti-kolonialen Befreiungskampf ebenso beteiligt wie an dem gegen die Militärdiktatur. Seit der Einführung der Demokratie 1999 vertreten Gewerkschaften die Interessen der Armen. Obwohl Nigeria eine Mehr-Parteien-Demokratie mit Präsidialsystem ist, sind die Oppositionsparteien schwach. Sie sind keine einflussreiche Gegenmacht. Daher artikuliert sich die Gewerkschaftsbewegung zunehmend lautstark.

Nigeria hat zwei Gewerkschaftsdachverbände: der Nigeria Labour Congress (NLC) vertritt die einfachen Arbeitnehmer, und der Trade Union Congress (TUC) organisiert Arbeitnehmer in leitenden Positionen. Die Mitglieder der Dachverbände überschneiden sich nicht; beide haben jeweils eigene Ableger in den verschiedenen Wirtschaftszweigen. Ihre Netzwerke de­cken den formalen Sektor sowie die öffentlichen Institutionen ab. Sie sind nahe am Puls der Belegschaften und leiten Informationen über Ungerechtigkeiten an die nationalen Geschäftstellen weiter.

Beide Verbände haben immer mit zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammengearbeitet. Es gehört zu ihrer Tradition, gegen rabiate Regierungspolitik zu kämpfen, die harte Bedingungen für Arbeitnehmer und die Bevölkerung zur Folge hatte.

Ethnisch und religiös ist Nigerias Gesellschaft sehr vielfältig. Religiöser Fanatismus ist ein ernstes Problem, und die Regierung ringt mit Gewalt im Nigerdelta. Die größten ethnischen Gruppen sind Yoruba, Hausa und Igbo. Sie haben zwar gelernt, friedlich zusammenzuleben, dennoch bleibt immer Raum für Agitation über Marginalisierung oder ungerechte Aufteilung des nationalen Kuchens.

Die Gewerkschaften stehen meist über solchen Differenzen. Der frühere NLC-Präsident Adams Aliyu ­Oshiomhole sagte einmal, es sei schwierig, das Ausmaß ethnischer und religiöser Diskriminierung einzuschätzen, aber sie sei kein bedeutendes Problem im NLC: „Der beste Beweis, dass die Gewerkschaften sich nicht durch ethnische Spannungen zerreißen lassen, ist, dass ich NLC-Präsident geworden bin – ich stamme aus einer sehr kleinen Minderheit in Nigeria.“ Es gab aber auch Versuche, in Gewerkschaften ethnische und religiöse Konflikte zu schüren. Die Mehrheit der Mitglieder jedoch hält sich an das Prinzip, dass es auf den Standort der Firma und die Branche, für die sie arbeiten, ankommt. Gewerkschaften müssen streikfähig sein, die Solidarität der Mitglieder ist unerlässlich. Alle Differenzen, die nicht mit Arbeit zu tun haben, sollten irrelevant bleiben.


Landesweite Aktionen

In den vergangenen neun Jahren organisierten die Gewerkschaften mehrere landesweite Generalstreiks, die von Arbeitern, Mittelschicht und anderen Teilen der Gesellschaft unterstützt wurden. Im vergangenen Mai bekam die neue Regierung von Präsident Umar Yar’Adua ihre Dosis ab. Die Gewerkschaften riefen zu einem zweitägigen Sit-at-home-Streik am 28. und 29. Mai auf, um gegen seine unsaubere Wahl zu protestieren.

Aber die echte Feuertaufe kam für ihn einen Monat später, als die Gewerkschaften einen unbefristeten landesweiten Generalstreik ausriefen, um gegen eine Preiserhöhung für Erdölprodukte und die Anhebung der Mehrwertsteuer zu protestieren. Beides hatte Yar’Aduas Vorgänger Olusegun Obasanjo hastig kurz vor Ende seiner Amtszeit angekündigt. Der Streik dauerte vier Tage, dann beugte sich die Regierung den Massen. Sie nahm Preiserhöhung und Mehrwertsteueranhebung zurück und versprach, daran ein Jahr lang nicht zu rütteln. Nach dem Triumph sagte NLC-Präsident Abdulwaheed Omar: „Wir haben gehandelt, um Nigeria zu einem besseren Ort für uns alle zu machen.“

In Nigeria herrschte von 1960 bis 1998 das Militär. Mit dem Start der Demokratie 1999 mischte sich die Gewerkschaftsbewegung, insbesondere der NLC, in die Politik ein. Sie bezog dabei eine Position, die weder parteiisch noch unpolitisch war.

Angesichts von Ungerechtigkeiten und Missständen beschloss die Gewerkschaftsbewegung 2006, eine eigene Partei zu gründen. Im vergangenen Jahr stellte die Labour Party Kandidaten für Wahlen in den nigerianischen Bundesstaaten Lagos, Edo, Ekiti, Ondo, Osun und Kogi. Der frühere NLC-Präsident Oshiomhole kandidierte in Edo für das Gouverneursamt. Dort ging Labour ein Bündnis mit einer anderen Partei ein. Das Ergebnis der Wahl wurde jedoch manipuliert, die meisten amtierenden Gouverneure der Regierungspartei blieben im Amt. Oshiomhole wurde nicht Gouverneur.

Die Gewerkschaftsbewegung hat aber zu einem gewissen Maß Recht bekommen, da manche Wahlergebnisse vor Gericht angefochten und dann annulliert wurden. So müssen etwa in den Staaten Adamawa and Andkogifor Wahlen wiederholt werden. Selbst die Wahl von Yar’Adua zum Präsidenten ist noch umstritten, bislang hat die Justiz aber keine Neuwahl angeordnet.

Vor der Reform des Arbeitsrechts 2005 war, wer in einem formal organisierten Unternehmen arbeitete, automatisch Mitglied der zuständigen Branchengewerkschaft. Damals war der NLC der einzige Dachverband, den die Regierung anerkannte. Der NLC wurde sogar per Dekret der Militärregierung in den 70er Jahren geschaffen. Das Ziel war ein symbiotisches Verhältnis von Kapital und Arbeit in den Betrieben, anstatt in den Kategorien Herr und Knecht zu denken. Der NLC baute dabei auf Organisationen auf, die Arbeitnehmer selbst gegründet hatten.

In den 70er und 80er Jahren wählten die Gewerkschaften in einer kurzen Phase der Demokratie ihre Führungsgremien selbst. Aber 1983 griff das Militär wieder nach der Macht, und setzte einen zentralen Gewerkschaftsadministrator ein. Die Arbeitnehmerorganisationen sollten auf Regierungskurs gebracht werden. Dennoch vertraten die Gewerkschaften in Konflikten mit den Arbeitgebern weiterhin die Interessen der Belegschaften.

1993 annullierte dann das Militärregime von Ibrahim Babangida Präsidentschaftswahlen, die frei und fair verlaufen waren. Viele Gewerkschaftsführer wurden inhaftiert, andere tauchten ab. Viele Gewerkschafter stellten sich an die Seite von Menschenrechtsgruppen und anderen Initiativen, die Demokratie forderten.


Neue Mitglieder

Heute entscheiden die Arbeitnehmer selbst, ob sie einer Gewerkschaft beitreten. Die Reform von 2005 bleibt umstritten. Einige Gewerkschaftsführer argumentieren, sie habe nur die Arbeitgeber gestärkt. „Unternehmen zwingen Arbeitnehmer zu unterschreiben, dass sie nicht Gewerkschaftsmitglied werden“, sagt Boniface Izok, Präsident der NLC-Gewerkschaft National Union of Chemical Footwear Rubber, Leather and Non-Metallic Products Employees. Andere dagegen meinen, dass der Wettbewerb Gewerkschaften zwinge, mehr auf ihre Mitglieder zu achten.

Laut TUC-Präsident Peter Esele ist eine der größten Aufgaben der Gewerkschaften nun, neue Mitglieder zu gewinnen. Ein Weg ist, die Menschen in den traditionellen Sektoren der Wirtschaft zu organisieren. Arbeitsrecht und kollektive Lohnverhandlungen sind in Nigeria bisher weitgehend auf den formalen Sektor beschränkt. Verkehr beispielsweise ist ein informeller Sektor, in dem es sehr hart zugeht. Gewerkschaftsführer sehen die Chance, Fahrer zu organisieren, damit sie für ihre Rechte kämpfen können. Wenn Arbeitnehmer sich formal organisieren, können sie das reguläre Arbeitsrecht in Unternehmen einfordern und durchsetzen. Solange sie das nicht tun, gelten aber auch offiziell die Regeln der nigerianischen Traditionen. Arbeitgeber in den traditionellen Sektoren stemmen sich aus verständlichen Gründen gegen die Gewerkschaften.

„Wir glauben, dass ein Unrecht gegenüber einem ein Unrecht gegenüber allen ist, ob er nun im modernen oder im informellen Sektor arbeitet“, sagt Izok. „Wir strecken außerdem unsere Fühler zu den Schweißern, Bauern, Marktfrauen und Metzgern aus, sie alle sind Arbeiter und ihre Interessen müssen geschützt werden.“