Kommentar

Zweite Chance

In Nepal zeichnet sich ein Aufschwung ab. Die von Bürgerkrieg, Korruption und einer zerstrittenen Parteienpolitik gebeutelte Nation könnte als Folge der allgemeinen Wahlen im November endlich einen Weg zu einer Verfassung und einer konstruktiven wirtschaftlichen Entwicklung finden.
Der Tourismus bringt vielen bescheidenen Wohlstand, schafft aber nicht genug Arbeit für alle. P. Royer/blickwinkel/picture-alliance Der Tourismus bringt vielen bescheidenen Wohlstand, schafft aber nicht genug Arbeit für alle.

Die Maoisten haben die Nepalis enttäuscht. Ihr langjähriger, gewaltsamer Aufstand führte zwar vor sechs Jahren zur Abschaffung der Monarchie, doch als die Aufständischen sich zur Partei umwandelten, um sich in ein demokratisches Staatsgefüge zu integrieren, versagten sie kläglich. Sie konnten die erhoffte Wende zur sozialen Gerechtigkeit nach ihrem Wahlsieg 2008 nicht herbeiführen. Die revolutionären Anführer entpuppten sich als ebenso korrupt und machtgierig wie die Politiker, die sie zuvor angegriffen hatten. Eine neue Verfassung kam nicht zustande.

Aus den Wahlen im November 2013 gingen die Maoisten nun nur noch als drittstärkste Kraft hervor. Die beiden stärksten Parteien, der Nepali Congress und die kommunisitische CPN-UML, haben eine Koali­tion gebildet und den altgedienten Politiker Sushil Koirala zum Premierminister bestellt. Die Maoisten hätten der Koalition beitreten können, doch sie zogen es vor, in die Opposition zu ziehen. Es wird nun darauf ankommen, ob es ihnen gelingt, eine konstruktive Rolle als demokratische Opposition zu finden, oder ob alte revolutionäre Denkweisen wieder dominieren werden. Die neue Koalition verspricht eine Verfassung innerhalb eines Jahres. Sie muss freilich beweisen, dass sie nicht in alte korrupte Machenschaften und ins Kastendenken zurückfällt. Auch sie muss überkommene Haltungen überwinden, um das Land tatsächlich voranzubringen.

Der renommierte Verleger und Journalist Kanak Mani Dixit spricht von Nepals „zweiter Chance“. Es kommt aus seiner Sicht nun darauf an, die Infrastruktur in abgelegenen Gebieten zu entwickeln, damit Landwirtschaft und Kleingewerbe aufblühen können. Das ist besonders im Interesse der armen Bevölkerung wichtig. Die neue Regierung verspricht, sich darum zu kümmern.

Dixit fordert darüber hinaus ein neues sozioökonomisches Bewusstsein. Bislang präge ein „Kult des Gebens“ das Land, weil zahlreiche karitative internationale Organisationen in den Bergregionen aktiv sind. In Nepal müsse sich aber Eigenverantwortung und Selbstbestimmung entwickeln. Bisher ist die Situation vieler Jugendlicher trostlos. Zwar entstehen immer mehr Schulen, doch wer Bildung erwirbt, will nicht länger das harte Leben von Bergbauern führen. Die Hauptstadt Kathmandu ist der einzige Ballungsraum, und dorthin wandern viele junge Leute ab. Leider finden sie dort oft keine Perspektive. Die Landflucht beraubt die Dörfer ihrer leis­tungsfähigsten Einwohner und überfordert zugleich die urbanen Strukturen. Vor 20 Jahren war Kathmandu noch kleinstädtisch beschaulich. Heute gibt es immense infrastrukturelle Probleme. Stromsperren von bis zu zwölf Stunden sind Alltag.
 
Für viele ist Kathmandu nur ein Sprungbrett auf dem Weg in die Golfstaaten, nach Malaysia oder Australien. Auslandsjobs bringen zwar Geld, reißen aber Familien auseinander und zwingen viele, sich mit unwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen zu arrangieren.

Von denen, die in Kathmandu bleiben, leben die meisten vom Fremdenverkehr. Sie verdingen sich als Träger, Köche oder Bergführer auf Trekking-Reisen. So entsteht ein bescheidener Wohlstand. Doch die Tourismussaison dauert nur rund vier Monate – und danach sind die Leute wieder arbeitslos. Selbst in der Hochsaison finden viele Arbeitswillige keinen Job. Die neue Regierung muss schnell neue wirtschaftspolitische Impulse geben, damit neue und breiter gestreute berufliche Op­tionen entstehen.

Kanak Mani Dixit besteht darauf, Nepal nicht isoliert zu betrachten, sondern als Teil der Region Südasien, die historisch und kulturell eine Einheit bilde. Dixit sieht den Riesen Indien in einem partnerschaftlichen Zusammenhang mit den kleineren Nachbarn. Die Region beginne, sich, als Gegengewicht zu China, wirtschaftlich und soziokulturell zu profilieren. Bisher bietet Nepal seinen Menschen aber kaum attraktive Lebensmöglichkeiten. Auch die vom Tourismus geprägte Hauptstadt ist vor allem eines: arm.

Martin Kämpchen ist freischaffender Schriftsteller und Autor. Er lebt in Indien. m.kaempchen@gmx.de