Ländlicher Raum

Leben in den Dörfern

Angesichts des Scheiterns zentraler Planung führte Indien vor 25 Jahren gewählte Dorfräte ein. Die Ergebnisse dieser Reform sind durchwachsen. Es muss mehr geschehen, um Indiens Demokratie im ländlichen Raum vor allem durch Beteiligung der benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu stärken.
Stimmabgabe bei Panchayatwahlen in Assam am 6. Februar. picture-alliance/dpa Stimmabgabe bei Panchayatwahlen in Assam am 6. Februar.

Wörtlich bedeutet  „Panchayat“ eine Versammlung („ayat“) von fünf („panch“). Traditionell wurden in indischen Dörfern kollektiv bindende Entscheidungen von Räten getroffen, die aus fünf angesehenen Senioren bestanden. Die Dorfgemeinschaft wählte sie aus und respektierte sie. Historische Texte, soziale Studien und die sonstige Literatur über den Subkontinent zeigen, dass es Panchayats unter verschiedenen Namen und in vielen Varianten gab. Sie waren aber alle Selbstverswaltungsgremien und dienten als Verbindungsstellen ihrer Dörfer zur staatlichen Verwaltung. 

Weil der Staat vor allem daran interessiert war, Steuern und anderen Einnahmen einzutreiben, hatten die Panchayats vor Ort beachtliche Autonomie. Sie sprachen Recht und fassten politische Beschlüsse. Im Lauf der Zeit wurden sie zu Symbolen dörflicher Solidarität.

Die britische Kolonialmacht versuchte diese Dorfräte mit Blick auf die imperialen Finanzen effektiver zu machen. Nach dem Abzug der Briten ließ der Staat den Panchayats aber zunächst kaum noch Gestaltungsraum, obwohl sie in der Vision Mahatma Gandhis, der Leitfigur der Unabhängigkeitsbewegung, die Grundlage der indischen Demokratie bildeten. Er forderte „Gram Swaraj“, die „Selbstregierung der Dörfer“, und betonte, Indien lebe „in den Dörfern“. Die neue Regierung setzte aber auf Zentralplanung und meinte, die Dorfbevölkerung sei überholten Traditionen verhaftet. Die Panchayats bekamen erst nachträglich Verfassungsrang, als das indische Grundgesetz 1948 ergänzt wurde. Klare Zuständigkeiten und Vollmachten bekamen sie aber nicht.

Angesichts Indiens enormer Größe und Vielfalt wurde schnell deutlich, dass die Zentralplanung nicht funktionierte. Regierungsvorhaben wurden meist nur mangelhaft implementiert. Deshalb wurde das System in den 1990er Jahren überdacht – vor allem in den der Dörfer, wo 70 Prozent der Bevölkerung lebten. Das weckte neues Interesse and den Panchayats.

 

Neuerfundenes Rad

1992 führte der 73. Verfassungszusatz die Panchayats als Organe der lokalen Selbstverwaltung überall in Indien auf drei Ebenen (Dörfer, Dorfgruppen und Distrikte) ein. Sie sollten Politik gestalten und implementieren. Die traditionelle Institution wurde wiedererfunden und neugestaltet, um die Demokratie zu stärken. Weil die Räte nun auch die soziale Inklusion vorantreiben sollten, wurden Sitze für Frauen sowie für benachteiligte Kasten („scheduled castes“ – SC) und die indigene Adivasi-Bevölkerung („scheduled tribes“ – ST) reserviert. 

Heute hat Indien mehr als 250 000 gewählte Panchayats mit insgesamt 2,8 Millionen Mitgliedern. Davon stellen Frauen 30 Prozent, die SC 19 Prozent und die ST 12 Prozent. Etwa 1,6 Millionen Panchayat-Abgeordnete gehören den armen Gesellschaftsschichten an. 

Die neuen Panchayats haben sowohl die soziale Inklusion als auch die Verwaltungseffizienz ein Stück weit verbessert. Eine zentrale Rolle spielen sie beispielsweise beim viel gepriesenen Armutsbekämpfungs- und Arbeitsbeschaffungsprogramm MGNREGS (Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Scheme). MGNREGS garantierte je einem Mitglied jedes ländlichen Haushalts 100 Arbeitstage zum gesetzlichen Mindestlohn bei öffentlichen Infrastrukturmaßnahmen. Die Panchayats entscheiden über die Projekte, stellen die Leute ein und bezahlten sie.

MGNREGS hat sich als wirkungsvoll erwiesen. Allerdings lehrt die Erfahrung, dass der Erfolg von Bundesstaat zu Bundesstaat stark variiert, je nachdem wie aktiv die Panchayats waren und welche Möglichkeiten ihnen gegeben wurden.

Es bleibt viel zu tun, um die Panchayats zu stärken:

  • Den Panchayats mangelt es an Personal, Räumen und Infrastruktur. Viele haben weder eine hauptberufliche Bürokraft noch ein ordentliches Büro. Das beeinträchtigt ihre Leistungsfähigkeit.
  • Die digitale Kluft zwischen Stadt und Land ist weiterhin riesig. Nur 20 Prozent der Dorf-Panchayats verfügen über Computer. Da E-Governance in Indien immer wichtiger wird, ist das ein großes Problem.
  • Die Panchayats sind als Plattform der Inklusion konzipiert, aber es ist nicht hilfreich, dass viele gewählte Mitglieder kaum oder gar nicht lesen können. Vielen ist auch ihre Aufgabe und Verantwortung nicht richtig bewusst. Panchayat-Abgeordnete müssen viel besser geschult werden, damit sie ihren Aufgaben gerecht werden können.
  • Die indische Verwaltung ist sehr komplex, und oft überschneiden sich Zuständigkeiten. Die Beamten denken aber überwiegend sehr kleinteilig und bleiben alten Gewohnheiten verhaftet. Es gibt kaum Koordination zwischen den Behörden, aber jede übt ihre Kontrollfunktionen eifersüchtig aus. Dass die Zentralregierung gern „Flagship“ Initiativen und „Missions“ ins Leben ruft, die gut finanziert werden und meist eine eigene Verwaltung bekommen, macht die Dinge nicht besser. Die Panchayats erleben immer wieder, dass Parallelstrukturen, die oft demokratisch nicht legitimiert sind, ihre Position unterhöhlen.
  • Obwohl ihnen anspruchsvolle Rollen und Aufgaben zugewiesen wurden, mangelt es den Panchayats an Finanzmitteln und Fachpersonal, um Dorfentwicklung in Gang zu setzen. Letztlich hängen sie von Zuweisungen ihrer Landesregierung ab, was selbstverständlich ihre Autonomie begrenzt.

Die härteste Kritik an den Panchayats ist aber, dass sie an allzu vielen Orten nur die alten Machtverhältnisse verschleiern. Die Macht bleibt dort in den Händen der Elite, und die gewählten Ratsmitglieder dienen als bloße Fassade. Verschiedene Studien belegen, dass Versuche der benachteiligten Bevölkerung, sich über die Panchayats oder auf andere Weise Gehör zu verschaffen, in verschiedenen Gegenden immer wieder gewaltsam unterdrückt wurden.

Leider haben auch die „Gram Sabhas“, dörfliche Vollversammlungen, nicht Fuß gefasst. Die Gram Sabhas hätten zu Foren für Inklusion, Transparenz und Rechenschaftspflicht werden sollen. Der 73. Verfassungszusatz sah solche Treffen zwar vor, wies ihnen aber – möglicherweise wegen des Einflusses mächtiger Interessengruppen – keine Kompetenzen oder Kontrollmechanismen zu. Bisher gibt es nur einzelne Exzellenzbeispiele für Gram Sabhas – und zwar dort, wo große regierungsunabhängige Organisationen sich dafür eingesetzt haben, dass das Modell funktioniert.

Trotz aller Kritik steht fest, dass die Panchayats neue Wege zur gesellschaftlichen Inklusion bieten. Allein die Tatsache, dass sie aus Wahlen hervorgehen, stellt die traditionelle Dominanz durch Kasten, Klasse und Geschlecht bereits in Frage. Allerdings prägt Ungleichheit die indische Gesellschaft sehr. Für die meisten Armen – und besonders auf dem Land – bleiben Behörden unnahbar. Die Panchayats habe auch daran etwas geändert, denn durch sie gibt es nun Verbindungen zwischen den Dörfern und der staatlichen Institutionen.

Der 73. Verfassungszusatz wurde vor 25 Jahren beschlossen. Es ist nun Zeit, all das anzugehen, was die Panchayats immer noch bremst. Die drei „F“ – Funktionen, Finanzen und Fachpersonal – müssen ernsthaft angegangen werden. Indiens Demokratie kann im ländlichen Raum gestärkt werden. Das Fundament ist gelegt, nun muss darauf aufgebaut werden. Um den politischen Willen zu schaffen, kommt es auf unabhängige Organisationen und die Bürger insgesamt an, die ihre Rechte einfordern müssen.

 

Ipsita Sapra ist Soziologin am Tata Institute of Social Sciences in Hyderabad im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh.
ipsita_basu@yahoo.com