Pluralismus

Warum künstliche Intelligenz uns nicht gerecht wird

Eine Gruppe profilierter Fachleute warnt, der Entwicklung von künstlicher Intelligenz (KI) liege ein falsches Verständnis von menschlicher Intelligenz zugrunde. Die Konsequenzen sind potenziell katastrophal.
https://carrcenter.hks.harvard.edu/files/cchr/files/howaifailsus.pdf

Das Expertenteam um Divya Siddarth urteilt, das aktuelle KI-Paradigma setze Ressourcen für unproduktive und gefährliche Ziele ein. Das gemeinsam verfasste Papier „How AI fails us“ wurde im Dezember 2021 vom Carr Center for Human Rights Policy der Harvard-Universität veröffentlicht. Demzufolge ist KI-Entwicklung derzeit darauf ausgerichtet, einzelne, abgrenzbare und autonome intelligente Einheiten zu schaffen. Anders formuliert geht es darum, Maschinen zu schaffen, deren kognitive Fähigkeiten menschliche übertreffen und unabhängig von Menschen funktionieren. In der Studie heißt dieser Ansatz „real existierende KI“ (AEAI – actually existing artificial intelligence).

Die Fachleute beanstanden, dass dabei missverstanden werde, was menschliche Intelligenz eigentlich ausmache. Diese sei interaktiv, gemeinschaftlich und kooperativ. Folglich sei es irrig, anzunehmen, Menschheitsprobleme würden gelöst, wenn nur die Spitzenleute intelligent genug wären. Stabile gesellschaftliche Lösungen resultierten nun mal nicht aus zentraler Planung, sondern aus gründlichen Debatten. Die Harvard-Studie fordert deshalb die Entwicklung von digitalen Instrumenten, die zwischenmenschlichen Austausch und kollektive Entscheidungsfindung nicht ersetzen, sondern erleichtern. Diesen Ansatz nennt sie „real existierende digitale Vielfalt“ (AEDP – actually existing digital plurality).

Ein zentrales Argument ist, dass derzeit eine winzige Fachgemeinschaft die Entwicklung vorantreibe. Die Vorreiter seien drei Unternehmen in den USA, von denen jedes eng mit einem der drei Großkonzerne Microsoft, Google und Facebook verbunden sei. Nur sie verfügten über die nötigen Ressourcen. Der harte Wettbewerb zwischen den drei Firmen und die Angst, von chinesischer Konkurrenz überholt zu werden, sei problematisch. Hohes Tempo habe nämlich Vorrang vor gründlicher Risikoanalyse und Sicherheit.

Finale Erfindung

Das Streben nach einer „finalen“ Erfindung, die menschliche Intelligenz mit mächtigerer künstlicher Intelligenz ersetzt, hat aus Sicht des Expertenteams zwingende Konsequenzen. Pluralistische Perspektiven gingen verloren, technokratische Lösungen würden präferiert und Entscheidungen zentral gefällt. Historisch gebe es aber viele Beispiele dafür, dass extreme Konzentration von Ressourcen und Macht katastrophale Resultate brachte.

Die Autor*innen lehren an verschiedenen Universitäten oder arbeiten für Microsoft. Sie lehnen die Vorstellung ab, dass Mensch und Maschine grundsätzlich konkurrierten – und dass Automatisierung per se erstrebenswert sei. Ihrem Urteil nach führe dieses Denken zur Entwertung menschlicher Fähigkeiten, Arbeitslosigkeit und hohen sozialen Kosten. Stattdessen komme es darauf an, mit Technik menschliche Produktivität zu steigern. Die Studie hält fest, dass es trotz rasanten digitalen Wandels in dieser Hinsicht in den vergangenen Jahrzehnten wenig Fortschritt gab. Eine Grundbotschaft ist, dass die Menschheit nicht kleine, zentralisierte Entwicklungsgruppen mit umfassenden Ressourcen bei der Verfolgung sehr eng verstandener Ziele ausstatten sollte. Sowohl aus ethischer Perspektive wie auch aus Effizienzgründen sei digitaler Pluralismus der bessere Ansatz.

Die Studie benennt dafür mehrere Praxisbeispiele – zum Beispiel eBird, eine Plattform, auf der Laien ihre Vogelbeobachtungen als Beitrag zur ornithologischen Wissenschaft eingeben können. Auch Wikipedia und Kryptowährungen werden genannt. Gelobt werden zudem Bemühungen der Regierung Taiwans, Demokratie digital zu stärken. Es geht dabei darum, Staatshandeln transparenter zu machen und mehr Menschen zu involvieren. Die zuständige Ministerin, Audrey Tang, hatte sich zunächst als zivilgesellschaftliche Aktivistin einen Namen gemacht, deren Organisation mit digitalen Mitteln für mehr öffentliche Teilhabe kämpfte.

Link
Siddarth, D., et al, 2021: How AI fails us.
https://carrcenter.hks.harvard.edu/files/cchr/files/howaifailsus.pdf

Roli Mahajan ist freie Journalistin und lebt im nordindischen Lucknow.
roli.mahajan@gmail.com